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Seitdem hat das verallgemeinernde singulare tantum «das Bild» einen adäquaten Inhalt. Das Denken der ikonischen Differenz verankert sich aber auch nicht minder in neueren Entwicklungen der Philosophie und der Wissenschaften. Vor allem die Entdeckung von Symbolisierungsformen nicht-verbaler Art, des «Zeigens» gegenüber dem und im «Sagen» (Wittgenstein, Heidegger, Cassirer, K. Bühler) ist von grossem Interesse. Gleichzeitig haben Linguistik, Neurowissenschaft, Paläontologie, Primatenforschung und Kinderpsychologie verdeutlichen können, welche gestisch-ikonischen Kapazitäten der Sprache vorausgehen bzw. sie begleiten. [4] Die ikonische Differenz macht als theoretische Figur den Versuch, das Ikonische im Logos bzw. als Logos zur Geltung zu bringen.

Die konstitutiven Merkmale des Bildlichen enthüllen sich einer anschaulichen Deskription lediglich nur unvollkommen. Es bedarf mithin einer tiefer dringenden, einer bildkritischen Arbeit, um aufzuschliessen, wie und womit jeweils der erkennbare Sinn und die erfahrene Wirkung generiert worden sind.

Mit der ikonischen Differenz formulieren wir eine Hypothese, deren Geltung für jedes besondere Bildwerk behauptet wird. Sie lautet: Jedes ikonische Artefakt organisiert sich in der Form einer visuellen, intelligenten sowie deiktischen, und das heisst nicht-sprachlichen, Differenz. Ihre konstitutiven Aspekte sind jeweils andere, ob es sich nun zum Beispiel um Höhlenmalerei, um Ikonen, Masken, Tafelbilder, um dreidimensionale Bildwerke, um Zeichnungen, Fotos, bildgebende Verfahren, Diagramme oder Bewegtbilder handelt. In einem freilich kommen sie allesamt überein: in ihren heterogenen Erscheinungsformen aktivieren sie ein Strukturmoment, das sie miteinander verbindet, sie zu Bildern macht. Alle Bilder arbeiten, wie gesagt, strukturell gesehen, mit dem Wechselspiel eines Kontrastes zwischen kontinuierenden Momenten und diskreten Elementen, sie sind eine «kontinuierliche Diskontinuität». Diese in die Form einer anschaulichen Deskription gekleidete generelle Hypothese – man mag sie auch eine summarische Definition nennen – scheint der Figur-Grund-Relation der Gestalttheorie zu ähneln, doch weist sie in eine ganz andere Richtung. Denn die ikonische Differenz erweist sich nicht als zweigliedrige, visuell gewendete Oppositionsfigur, sondern sie repräsentiert einen dreigliedrigen Übergang, konzipiert das Bild als Ereignis. Dies zu bestimmen ist Sache einer zweiten Ebene, auf die wir jetzt übergehen.

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