Deutungsmacht als die Macht der Deutung im genitivus subiectivus benennt gegenläufig die nicht per se mächtige Deutung, die gleichwohl mächtig werden kann. Habermas’ Ideal vom ‹seltsam zwanglosen Zwang des besseren Arguments› ist die kommunikationstheoretische Variante einer Urimpression, die in der Theologie auch belegbar ist, etwa im Ideal einer (nicht repressiven) ‹Unwiderstehlichkeit› des Wortes Gottes. Das kann gehärtet werden als allmächtiges Wort Gottes, dem keine Kreatur widerstehen könne. Es hat seinen Sitz im Leben, allerdings ursprünglich in der ‹unwiderstehlich› deiktischen Gleichnisrede Jesu, deren Pointe zu ‹hinreissend› ist, als dass ihr widerstanden werden könnte. Dann ist nicht eine vorgängige Macht die Ermächtigungsinstanz der Deutung, sondern die Deutung wird mächtig erst aufgrund ihrer Wirkung, Performanz bzw. Rezeption. Von dieser Art sind auch die Formen der manchen Bildern eigenen Macht. Hier regiert die Deutung und deren Rezeption den Sinn von Macht. Dergleichen könnte man ‹Macht von unten› nennen.
Es bleibt jeweils differenzierungsbedürftig, was für ein Sinn von Macht einer (vermeintlich?) machtlosen Deutung ‹zuwächst›. Das Woher von Macht bleibt bestimmungsbedürftig: aus der Struktur der Kommunikation, aus der Semantik der Deutung, aus der Pragmatik der Rezeption oder aus der Performanz ihrer Medialität? Woher bezieht eine Deutung ihre Macht, wenn sie mächtig wird?
Es liegt (zumal demokratisch) nahe zu vermuten: aus der Zuschreibung oder Anerkennung der Leser oder Betrachter, der Anderen und Späteren. Macht als vorgängige (immer schon vorübergegangene) Möglichkeit würde wirklich erst durch ihre Wirkungen, die in der Rezeption entstehen. Macht der Deutung käme stets aus ihrer Zukunft, der diachron nachgängigen Zuschreibung oder Anerkennung. Wenn Macht modal verstanden wird, ist die Macht der Deutung das, was sie ermöglicht: etwa was sie sehen lässt. Wie meinte Paul Valéry in Mon Faust: «Nichts liefert einen stärkeren Beweis für die Schöpferkraft eines Dichters als die Treulosigkeit und Unbotmässigkeit seines Geschöpfes. Je lebendiger er es schuf, desto grösser war die ihm verliehene Freiheit. Und noch seine Empörung preist seinen Urheber: Gott weiss es …» [31]