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Ebd., S. 23.

 

Bei ästhetisch anspruchsvollen Bildern wird das Sehen nie im Gesehenen aufgehen, sondern ein immer noch mal und wieder Hinsehen provozieren (wie anspruchsvolle Texte nicht im Gelesenen bleiben, sondern ein Wiederlesen provozieren).

Dabei gabelt sich der Weg dreifach: zunächst, wie üblich und bekannt, ins wiedererkennende und ins sehende Sehen. Der Weg in die Repräsentation von etwas oder jemandem ist das nächstliegende. «Das Porträt gilt uns als Bild, d.h. den zunächst ‹in› Graunuancen erscheinenden Bildgegenstand, oder den schon in Farben erscheinenden eines Gemäldes, meinen wir nicht. Er gilt uns eben als Bild der und der Person. Aber ein blosses Meinen kann da nicht helfen. Es ‹muss› doch ein Vorstellen im Sinn eines Auffassens zugrunde liegen, eines Objektivierens, das den neuen Gegenstand intentional konstituiert.» [6] Dann wird ‹konstituiert›, wen man kennt und wiedererkennt. Nur ist schon darin etwas anderes, eine Verschiebung am Werk, in der das Sehen ein Anders-Sehen wird, indem das Bildding als Bild gesehen wird. Der piktorialen Differenz (wie sie Waldenfels nannte) geht eine visuelle Differenz voraus. Der dritte, am Rande liegende Weg wäre das nicht wiedererkennende Sehen, das befremdet bleibt.

Wiedererkennen ist der dritte Schritt vom gesehenen Bild in das verstandene, sofern vorher Bekanntes wiedererkannt wird und die vorgängige Synthesis von Sinnlichkeit und Sinn im Wiedererkennen fortgesetzt wird («Ah, dies ist jenes und bedeutet das!»; in instruktiven, pädagogischen Kontexten mag das so gehen). Das hiesse: Kontinuität der Synthesis, Passung in den Erfahrungshorizont, Integration ins Bekannte etc. Es folgte der Logik bestimmender Urteilskraft, die subsumiert und normalisiert im vorhandenen Begriff (oder in Wissen, Erkenntnis etc.).

Im sehenden Sehen wird dieser Übergang problematisch, weil die vorgängige Synthesis, der Erfahrungshorizont, der semantische Rahmen das Gesehene nicht recht zu fassen vermag. Das provoziert die Arbeit am Verstehen namens Interpretation, um dessen Probleme zu beheben oder wenigstens zu lindern. Ein Problem des ‹sehenden Sehens› ist sc., dass es entweder den Fortgang blockiert (Sehen, Sehen und noch mal Sehen); dass es möglicherweise auch von der irrigen Intuition zehrt, als gäbe es ein ‹reines› Sehen, begriffslose Anschauung; und dass nicht klar ist, wie daran sprachlich, diskursiv bzw. interpretativ anzuschliessen wäre, ohne diese Reinheit zu verletzen.

Im nicht wiedererkennenden Sehen ist der Übergang zum Verstehen derart blockiert, dass sich ein nachhaltiges Nichtverstehen einstellt.

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