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Und das ist nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Wenn Kunst das zu provozieren riskiert, kann das dreifach weitergehen: Indifferenz als Gleichgültigkeit, wenn das Nichtverständliche als irrelevant erscheint, der Blick sich dem Nächsten zuwendet und vergisst, was da war. Kritik bis zur Destruktion, wenn das Nichtverständliche Aversionen weckt bis zu Aggressionen. Oder Verweilen, Beharren und Arbeit am Nichtverstehen, die konstruktiv werden kann, wenn das Nichtverstandene den Anfang einer neuen Reihe des (eigenen) Verstehens zu bilden beginnt.

Damit würde sich der übliche Gang des Verstehens umkehren. Wenn normalerweise eine Störung verstanden wird, indem sie in den gestörten Zusammenhang integriert wird (Anschluss, Kontinuität, Zusammenhang), und sei es, indem vom Klaren zum Dunklen, vom Fasslichen ins Nichtfassliche fortgeschritten wird, wäre das die Strategie der Entstörung (oder Normalisierung). Das kann man den aristotelischen oder pragmatistischen Normalfall nennen, der auch in der Hermeneutik üblich ist (Anschluss an die Tradition, Variante eines Bekannten etc.).

Es geht indes auch anders: wenn etwas Unverständliches so fortwirkt, dass es den Erwartungshorizont umbesetzt und neu strukturiert, so dass vielleicht nicht das Bisherige als Integrationshorizont dessen fungiert, sondern das Ereignis als Perspektive, in dem alles folgende darauf bezogen wird und sich von ihm aus ein neuer Erfahrungshorizont bildet. Trauma, Liebe und Bekehrung können dergleichen bewirken. Kunstereignisse möglicherweise auch. Jedenfalls ist damit eine andere Form des Verstehens angedeutet, indem Nichtverständliches nicht mit Exklusion (irrelevant oder ärgerlich) oder Inklusion (Integration ins Bekannte) bearbeitet wird (weder – noch), sondern indem sich von einer neuen Perspektive ein anderer Horizont des Verstehens eröffnet. Nicht das Neue im Lichte des Alten, sondern alles Kommende im Lichte des Neuen.

Für gewöhnlich gilt: Man muss wissen, um zu sehen. Innovativ gewendet wird es, wenn man sehen muss, um zu wissen. Aber ästhetisch widerständig wird ein Bild wohl erst, wenn man sehen und nochmals sehen muss, um überhaupt erst zu sehen, anders als bisher.

 

Vom Sehen zum Sprechen: Wie nicht nicht sprechen – vor einem Bild?

a) Die Kunst (nicht erst) der Moderne und Spätmoderne lebt nolens volens im Schatten eines Kunstbegriffs, der Kunst in Produktion und Rezeption vor allem als begriffene bestimmt. Der Begriff dominiert dann die Kunst und den Umgang mit ihr.

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