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Es gibt sie nicht. Nicht, weil sie (noch) nicht gefunden wurden; das wäre angesichts der Abermillionen Textzeugnisse, die wir aus diesen Kulturen haben, ein völlig unwahrscheinlicher Zufall. Es gibt sie nicht, weil im Alten Orient wie im Alten Testament Erkenntnis anders organisiert wird.

Da ich es mit der Pauschalisierung nicht übertreiben und nicht alle Kulturen des Alten Orients über einen Kamm scheren möchte, will ich diesen Sachverhalt am Beispiel des Alten Testaments andeuten: Das Alte Testament mit seinen 39 Büchern, die über Jahrhunderte zu einer kanonischen Sammlung zusammengewachsen sind, ist nicht der ‹durchsystematisierte Entwurf› der israelitischen Religion; das gilt für das Neue Testament ebenso. Solche ‹Systementwürfe› gibt es für die christliche Tradition erst seit der Zeit der Kirchenväter, die das, sozusagen griechisch geschult, getan haben. Im Alten Testament werden die zentralen Aspekte des Glaubens und der Religion, der Verhältnisbestimmung zur Welt u.a.m. nicht in Form von Abhandlungen oder begrifflichen Ausarbeitungen dargeboten. Die über weite Strecken vorherrschende Darbietungsform des Alten Testaments ist die Erzählung (Pentateuch, Geschichtsbücher) und die mehr oder weniger gestaltete Sammlung von Texten (Psalter, Sprichwörter, Prophetische Bücher). Und auch in diesen Texten werden wir vergebens nach Definitionen, Begriffsbestimmungen explizit reflexiver Art, wie wir sie aus griechisch-philosophischer oder späterer europäischer Tradition kennen, suchen.

Das heisst nun nicht, dass es im A.T. keine wichtigen Sachverhalte gibt, die unter einem ‹Begriff›, einem Wort, einem Terminus abzurufen wären. Das Alte Testament birgt eine Fülle von gewichtigen Sachen und Wörtern. Allerdings muss sich jeder die Anschauung von den hinter diesen Wörtern stehenden Sachverhalten anders erwerben als durch ‹Lesen› von Explikationen oder Definitionen. Wenn ich etwas über den Begriff des ‹Königs› wissen möchte, muss ich die Erzählungen über Könige lesen und mir daraus eine Anschauung bilden. Eine etwa mit einem heutigen Lexikoneintrag vergleichbare Definition des Königs, gar des Königtums usw. gibt es im A.T. nicht und auch nicht zeitgenössisch in anderen altorientalischen Kulturen. Wir finden dagegen in Erzählungen, Psalmen usw. viele Aussagen über Könige, auch teilweise präskriptive Texte (Dtn 17,14-20), aber aus diesen Aussagen musste sich der Adressat schon immer selbst eine Vorstellung ‹erlesen›. Das gilt ebenso auch für Begriffe wie Gott, Mensch u.v.a.m. [2]

Zudem gibt es Phänomene, für die dem A.T. kein eigenes (hebräisches oder aramäisches) Wort zur Verfügung gestanden hat. Ein prominentes Beispiel ist etwa, dass es im A.T. kein wirklich treffendes Wort für ‹Glaube›/‹glauben› gibt.

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