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In beiden Fällen befinden wir uns diesseits rational-logischer Paradigmen und zwar im Bereich des Triebes und der Sinnlichkeit, im Bereich der Ästhetik, oder, wie Erwin Hufnagel formuliert hat, einer «musikästhetische[n] philosophische[n] Grundlehre» [5]. Nietzsches Text ist innerhalb eines kunstbezogenen Diskurses zu verstehen, der zwei Modalitäten ästhetischer Seinsweise ans Licht bringen möchte: das Bildliche und das Unbildliche. Beide Begriffe stehen für Nietzsche weder im Sinne eines logischen Widerspruchs einander gegenüber, noch im Sinne einer dialektisch zu überwindenden Entzweiung: Ihre radikale Differenz ist vor dem Hintergrund einer urmythischen Einheit zu denken, in der Bildlichkeit und Bilderlosigkeit sich berühren.

Nietzsches eigener Begriff des «Ur-Einen» [6], als Urgrund des Lebens, steht für einen ursprünglichen lebendigen Zustand der Kunst in dem Apollinisch und Dionysisch noch in eins zusammenfallen, eine vor jeder Determination und Unterscheidung liegende Sachlage. Der Zustand vor der Trennung des Bildlichen vom Unbildlichen einerseits und die, mit Nietzsche gesprochen, Ur-Teilung des Ur-Einen andererseits müssen als Ausgangspunkte für eine Reflexion über Musik in einem bildtheoretischen Rahmen angenommen werden. Denn Musik und bildende Kunst, in ihrer medialen Spezifizität von Klang und Bild, scheinen auf den ersten Blick durch eine tiefe Kluft voneinander geschieden zu sein. Als so genannte Zeitkunst hat Musik – die Ephemere – angeblich kaum etwas mit visuellen Kategorien gemeinsam, denn sie entsteht und vergeht in der Bewegung der Zeit: Ihre Unsichtbarkeit, ihre Bilderlosigkeit gründet auf der flüchtigen Immaterialität ihrer Klänge. Innerhalb eines bildtheoretischen Diskurses steht die Erforschung musikalischer Sachverhalte also vor dem Problem einer Bild-Entzogenheit, denn Musik scheint verurteilt zu sein, von jedem visuell-ikonischen Moment getrennt zu leben. Letztlich hört man Musik wirklich nicht mit den Augen, so wie man ein Bild nicht mit den Ohren sehen kann. [7]

Dass eine hierzu analoge Problemlage auch bei anderen Formen der Künste vorliegt, wie etwa bei einem poetischen oder philosophischen Text, dass jedoch dort mal mit mehr mal mit weniger Widerstand von poetischen Bildern und von Metaphern, von Denkbildern oder Anschauungen die Rede sein kann, ermutigt uns, auch im Bereich der Musik danach zu fragen, was ihre ikonische, oder besser imaginative Qualität sein könnte. Vielerlei wäre dabei im Voraus zu klären: allem zuvor, ob die Termini Bild und Ikonizität aber auch Begriffe wie Zeigen, Präsenz, Figur, Grund, Anschauung, Phantasie und Imagination allein vor dem Horizont der Visualität gedacht werden müssen, oder ob auch ein anderes mediales Verständnis dieser Begriffe möglich ist.

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