Ebd., S. 104.
Bereits Nietzsches These einer der Kunst immanenten Zwietracht, die sich in den Chiffren des Apollinischen und Dionysischen materialisiert und die eine gedoppelte ästhetische Modalität – die des Bildlichen und die des Unbildlichen – verkörpert, suggeriert, dass man die Grenze nicht einfach bei der bloss sensoriellen Differenz von Hören und Sehen ziehen kann und auch nicht bei der blossen medialen Unterscheidung der jeweiligen Kunstformen. Das Verhältnis ist vielschichtiger und komplexer. Nietzsche stellt im Zentrum seiner Geburt der Tragödie die Frage nach der «aesthetischen Wirkung», die entsteht, «wenn jene an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen», und fasst pointiert diese besondere Fragestellung wie folgt zusammen: «Wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff?» [8]
Nietzsche geht es dabei weniger darum, eine bloss äusserliche Beziehung zwischen den verschiedenen Künsten festzustellen, die mit den genannten Medien operieren, und auch nicht um eine synästhetische Vermengung des Wahrgenommenen, als vielmehr um eine radikal neue Reflexion über die immanenten Relationen dieser drei Bereiche: hörbarer Klang, visuelles Bild und rationalisierbarer Begriff. In der Musik selbst, so argumentiert Nietzsche, überkreuzen sich diese Elemente, sie reiben sich aneinander und treten in einen, mit Martin Heidegger ausgedrückt, permanenten «Streit» [9]. Ist das Apollinische als ein bildhaftes Prinzip zu identifizieren, tritt es als solches als das visuelle Schattenbild des Realen hervor und ist es somit selbst als Erscheinung und Schein der Wirklichkeit zu verstehen, so lässt sich das Dionysische umgekehrt als dessen unsichtbarer und bilderloser Grund erkennen. Das Dionysische und das Apollinische, das Unbildliche und das Bildliche verhalten sich wie Schatten und Licht, wie Grund und Erscheinung zueinander.
Mit dem grundlegenden Prinzip des Dionysischen meint Nietzsche – etwas unbefangen – so etwas wie das allgemeine Wesen der Dinge. In seinem Text verweist er sogar auf das kantsche Ding an sich und intendiert somit das, was hinter (oder besser auf dem Hintergrund) der Erscheinung seine Existenz hat. [10] Trotz der teilweise dem kantschen Idealismus verpflichteten Terminologie meint Nietzsche damit keineswegs eine begriffslogische Allgemeinheit, die sozusagen immer ‹zu spät› eintritt, [11] sondern eher eine grundlegende und Sinn gebende Allgemeinheit, die dunkel und im wahrsten Sinne des Wortes dem Mythos verhaftet ist. Jenseits der medialen Differenz von Klang, Bild und Wort bilden im Bereich der Musik das Bildliche und das Unbildliche ein aporetisches Verhältnis, das nicht aufgelöst werden kann, und das gerade in dieser Spannung produktiv ist. Es handelt sich um stets aufeinander bezogene antagonistische Momente, die sich gleichsam auf einer Achse perspektivisch darstellen lassen können: