Sie dokumentieren weit mehr als ihr blosses Dasein, sie erzählen von der Welt, in der sie entstanden sind und zu deren Entstehen sie zugleich beigetragen haben. Dieses zu verstehen, ist Aufgabe einer Musikhermeneutik, die der Bildfrage gewachsen ist. Das Verhältnis der Musik zur ikonischen Welt der sichtbaren Bilder ist ein gebrochenes, ein durch und durch dialektisch verwobenes, und als solches ist es zu bedenken. Zu fragen wäre: Entsteht musikalischer Sinn in Zusammenhang mit dem oder in Absetzung vom ikonischen Sinn? Was ist das der ikonischen Differenz entsprechende in der Musik? Wohnt der Musik deiktischer Charakter inne? Doch um diesem Phänomen und diesen Fragen auf den Grund gehen zu können, bedarf es einer begrifflichen Klärung dessen, was in einem musikästhetischen Kontext mit Bild und Imagination gemeint ist.
Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik, München 2009, S. 12.
Ebd., S. 13.
Ebd., S. 36.
Ein anderer Bildbegriff?
Die besondere Erscheinungsweise von Musik, ihre spezifische Fähigkeit, dem Imaginären zu einer nicht visuell-bildlichen Anschauung zu verhelfen, sind Indizien dafür, dass Musik einen entscheidenden Beitrag zu einer bildkritischen Diskussion leisten kann. Musikalische Phänomene suggerieren an sich eine genuine Kritik des Bildbegriffs, sie verlangen einen eigenen Begriff des Imaginativen. Die Entscheidung an dieser Stelle und in diesem Text überhaupt, mit dem Begriff der Imagination zu operieren und nicht von Ikonizität der Musik zu sprechen, geht auf eine gewisse terminologische Schwäche des Ausdrucks ikonisch zurück. Die Geschichte dieses Terminus sowie auch die philosophiehistorische Entwicklung des damit benannten Sachverhaltes bieten zwar ein breites Spektrum an Bedeutungen, die wahrlich nicht alleine dem Medium der Visualität zugeordnet werden müssen, dennoch suggeriert das Wort ikonisch (insbesondere das englische Wort «iconic») im allgemeinen Sprachgebrauch entweder eine semiotische Grundkategorie oder aber eine primär der Visualität verhaftete Begriffskategorie. Beides trifft in Bezug auf Musik nicht unmittelbar zu.
Das Bedürfnis eines «anderen Bildbegriff[es]» [17], der sich «vom Dispositiv des Sichtbaren loslöst» [18], wurde im Bereich der Poetologie von Ralf Simon überzeugend erörtert. Simons starke These eines «höchst prekären ontologischen Status» [19] der Bilder ist nur zu folgen, solange das Prekäre und die Offenheit dieses Bildbegriffs gewahrt bleiben. Problematisch – vielleicht nicht nur in Bezug auf Musik – wäre Simons These nur in dem Moment, da der Bildbegriff zu einem transzendentalphilosophischen «eidetischen Gegenstand» [20] gleichsam abgeriegelt wird.