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Hierin ist jene zentrale aporetische Denkfigur enthalten, die der gesamten Ästhetik Adornos zugrunde liegt und die er am Bild des Grafen Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf herausziehen will, sichtbar macht. [28] Diese Figur beinhaltet einen der Kerngedanken von Adornos Ästhetik, derzufolge die Kunstwerke die «Möglichkeit des Unmöglichen» [29] sind.

Durch und durch geschichtlich sind die «bilderlosen Bilder» nichts anderes als das, was Kunstwerke in dem Augenblick der Betrachtung und des Zuhörens an geschichtlichem Wissen bezeugen: «Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand.» [30], schreibt Walter Benjamin an einer Stelle des Passagen-Werks. Als Momentaufnahme eines Prozesses, als Aufblitzen des Vergessenen wohnt diesem Bildbegriff ein paradoxes Moment inne: der Zeitcharakter. Das imaginative Moment von Musik, ihre imaginative Kraft, wäre also im Sinne dieser dialektischen Bilder zu definieren als das augenblickliche Festhalten einer geschichtlichen Zeugenschaft.

Jede Kunst kann den Nerv einer Zeit, einer Situation, einer menschlichen Lebenslage treffen, sie ist als Memoria unserer Geschichte zu verstehen.

Die durch die Memoria der unbildlichen Musik wiedergegebenen Geschichts-Bilder sind keineswegs als eineindeutige Abbildungen einer in sich bestehenden Geschichte zu verstehen. Die Spur von Geschichte, die diesen Bilder sui generis innewohnt, kennzeichnet vielmehr den Spannungsbogen zwischen dem Bild und der Erfahrung, in welchem die Geschichtlichkeit aufbricht. Das Imaginäre der Historie verkörpert die Aporie von Bild und Klang in besonders radikaler Weise: Hier ist Geschichte gerade nicht mehr eine Rekonstruktion von Vergangenem, ist nicht Visualisierung eines Geschehnisses, sondern im unsichtbaren Medium der Musik wird ein Zeugnis abgelegt, es wird geradezu Geschichtlichkeit gezeugt und bezeugt.

 

Matteo Nanni: geb. 1970 in Genua (I). Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Romanistik in Cremona und Freiburg i. Br. M. Nanni ist Assistenzprofessor im Bereich der älteren Musikgeschichte an der Universität Basel. Nach der Promotion in Philosophie mit einer interdisziplinären Dissertation 2004-10 Assistent am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Freiburg i. Br. und der Universität Basel. 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei eikones NFS-Bildkritik. M. Nannis Forschungsschwerpunkte sind Musik- und Musiktheorie des 13.-15. Jh.s., Geschichte und Semiotik der musikalischen Notenschrift, Musikgeschichte des 20. Jhs. und Musikästhetik.

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