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Die zeichnerischen Experimente wurden im Anschluss daran herangezogen, um einzelne, nicht sprachliche Vorgänge des Entwurfs zu isolieren und deren Resultat in Form von Bildserien als Grundlage für ihr Erkennen einzusetzen. An den Versuchen und den daraus resultierenden Bildserien wird sichtbar, wie durch die physische Konstellation des Körpers (Armbewegung), durch die Erfahrung mit der zeichnerischen Übersetzung einer konkreten Situation in 10-Sekunden Skizzen (Schulung der Hand) und durch die Präferenz des sensomotorischen Apparates für Bewegungssymmetrie (zweihändiges Zeichnen) Entscheidungen jenseits der Bewusstseinsschwelle gelenkt werden. Die differenzierte empirische Analyse der Vorgänge im Entwurfsprozess durch den Entwurf selbst weist auf die unspezifische Bedeutung von Begriffen wie implizites Wissen, Intuition und Zufall im Kontext der Bildgenese hin.

Kommen wir zurück auf das Anliegen, bildkritisches Denken in Sprache mit kritischem Denken über Bilder im Entwurfsprozess zu vergleichen, dann lassen sich die Prozesse offensichtlich dadurch gleichsetzen, dass in beiden eine Vielzahl von Entscheidungen und damit Differenzierungen über Bilder entstehen. Bei den genannten zeichnerischen Versuchen steht aber nicht das Erreichen eines ästhetisch ansprechenden Bildes im Vordergrund, sondern die systematische Analyse der Prozesse durch das Experimentalsystem [21] des Entwerfens. Die Kenntnis der Kräfte, die auf die Entscheidungen im Bildgeneseprozess Einfluss nehmen, erlaubt es zum Beispiel, den Prozess der Zeichnung dafür einzusetzen, konkrete Fragen zur Wirkung des Bildes experimentell voranzutreiben. [22]

Ausschlaggebend für das einzigartige Potential des Entwurfs ist die explizite Interaktion von Entscheidungen, Unterscheidungen und Kategorisierungen im Bereich jenseits der Bewusstseinsschwelle mit bewussten Entscheidungen, welche den Rahmen der unbewussten Prozessanteile bilden. Die unbewussten Entscheidungen, die der direkten verbalen Beschreibung verborgen bleiben, manifestieren sich als Spur der Entscheidungen nur im Bild oder im Prozess der Herstellung selbst. Sie stehen im Kontext von bewussten Prozessen der Entscheidungsfindung und sind weder zufällig noch rein individuell geprägt. Sie unterliegen wie die Sprache dem kulturellen Umfeld, den Einflüssen der Gruppe und den Gegebenheiten der Körperlichkeit des Individuums. Sie ermöglichen aber einen Zugang zum Bild ohne Umweg über die Sprache. Eine am Entwerfen orientierte Bildkritik ist deshalb primär eine nonverbale – also stumme – Kritik, die im systematischen Entwurf von Bildern visuelle Möglichkeitsfelder erschliesst und damit unvorhergesehene Bilder sowohl hervorbringt als auch beurteilt – und so einen Beitrag zum Gesamtprojekt der Bildkritik leistet.

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