Siehe dazu Iris Därmann, Theorien der Gabe, Hamburg 2010.
Insofern die Gabe jedoch – selbst da, wo sie, wie bei allen Potlatch- und Gabenfesten rituell vorgeschrieben ist – ein unberechenbares Ereignis bleibt, untersteht sie keinem vorgängigen Gesetz zur Reziprozität, das zur unirritierbaren menschlichen Geburtsausstattung gehört. Missbrauch und Asymmetrie markieren vielmehr ihr jederzeit mögliches Missglücken und die stete Drohung der Asozialität.
Aus soziologisch-ethnologischer Perspektive stiftet der Gabentausch diesseits von Natur (Aristoteles), Vertrag (Hobbes) und ekstatischer Vergemeinschaftung (Durkheim) elementare Formen des getrennten Zusammenlebens. In diesem Sinne gehört die Gabe, diese eigentümliche Mischung aus Person und Sache – die Gabe ist eine personifizierte Sache bzw. versachlichte Person, denn sie ist stets eine dingliche Selbstgabe – zu jenen Zwischendingen bzw. Quasi-Objekten, die Intersubjektivität und Sozialität im Modus eines «Pathos der Distanz» hervorbringen und unterhalten. [2]
Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss haben verschiedentlich darauf hingewiesen, dass der Gabentausch sowohl in den pazifischen als auch in den europäischen Winter- und Gabenfesten nicht nur auf die Anwesenden und Lebenden beschränkt ist, sondern sich auch auf die Abwesenden und nicht zuletzt auf die Toten und Ahnen erstreckt, die ebenfalls beschenkt werden, zum einen, um ihre dämonische Wiederkehr zu verhindern, zum anderen, um sie in die Gemeinschaft der Lebenden miteinzubeziehen.
Das trifft in den indianischen Maskengesellschaften für all jene Masken zu, die die Toten und Ahnen beim Gabentausch ekstatisch repräsentieren, und es gilt ebenso für alle zeitgenössischen europäischen Masken- und Verkleidungsfeste: Als Skelette oder Phantome verkleidet nötigen die Kinder, die die Toten darstellen, zu Allerheiligen oder Halloween die Erwachsenen zu kleinen Geschenken und verhalten sich wie masslose Nehmer, während umgekehrt die Toten, die die als Nikolaus oder Christkind maskierten Erwachsenen repräsentieren, als grosszügige und verschwenderische Geber aufzutreten pflegen, deren Geschenke aus dem Jenseits kommen. [3]
In Gestalt der verschiedenen Grabbeigaben – persönliche Habe des Toten, Schmuck, Waffen, Utensilien für die Körperhygiene, Münzen und Nahrung –, wie sie aus vielen europäischen und aussereuropäischen Kulturen von der Frühgeschichte bis in die Neuzeit bekannt sind, sowie der zahlreichen Toten- und Gedenkfeste finden sich weitere Praktiken der Gabe, die den Toten gelten. [4]