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Bilder und Totenkult

Doch hier lohnt ein zweiter Blick, namentlich auf die Bildtheorien von Roland Barthes und Jacques Derrida, in denen die Bilder selbst das Pensum des Totenkultes übernommen haben und zu Agenten eines asymmetrischen Gabentausches zwischen Lebenden und Toten geworden sind: In Die helle Kammer beruft sich Roland Barthes mit seiner mathesis singularis bekanntlich auf den Affekt als nicht reduzierbare Grösse, [15] die ihn zwei Elemente der Fotografie entdecken lässt: Das Interesse, der «durchschnittliche Affekt», den manche Fotos in ihm hervorrufen, gründet sich auf einer intentionalen Teilhabe, die er als «studium» bezeichnet. Es umreisst eine aktive Bewegung, die vom Subjekt ausgeht und dabei von einem affektiven Widerfahrnis durchkreuzt wird, das einen bestechenden, ja verletzenden Charakter aufweist: «Das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.» [16]

Wegen seines zugleich traumatischen und zufälligen Charakters erhält dieses Element den Namen «punctum». Studium und punctum treten für gewöhnlich gemeinsam auf; allerdings kennt Barthes einige wenige Fotografien, die für ihn nur aus jener empfindlichen Stelle und jener Verwundung bestehen, die das punctum ohne Zutun des betrachtenden Subjekts hervorruft. Dann hat es eine «expansive Kraft» und gewährt ein «Mehr an Sichtbarem, das die Gabe (le don), die Gunst des punctum ist» [17]. Besteht die exzessive Gabe des fotografischen Bildes in der expansiven Kraft des punctum, die den Betrachter ruiniert, dann trägt das so bestimmte Bild zugleich alle Züge einer parasitären Instanz, die mehr nimmt als sie gibt und die Kommunikation zwischen Bild und Empfänger auf empfindliche Weise stört. Die zerstörerische Wirkung des punctum macht sich nicht zuletzt in all jenen Fällen bemerkbar, in denen das fotografische Bild eine erfolgreiche Trauerarbeit unterminiert.

Denn das punctum hat zugleich eine spezifisch zeitliche Dimension, die für Barthes das Noema der Fotografie ausmacht. Die Fotografie ist das Zeitmass des Todes: Wer fotografiert wird, wird sterben, und er wird nur fotografiert, weil er sterblich ist. Die Fotografie wartet nicht den Tod ab, sondern trägt ihn vor der Zeit in alles das ein, was überhaupt nur fotografierbar ist. Es gibt eine mortale Vorzeitigkeit (eine trauernde Vorwegnahme) und traumatische Nachträglichkeit des Todes: «Das wird sein und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist.» [18]

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