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Diese Macht des Bildes, die zugleich eine Macht des Todes ist, lässt sich jedoch nicht auf das fotografische Bild in seiner Überevidenz beschränken. Jedes Bild zehrt vielmehr, so Derrida, von diesem «Gesichtspunkt des Todes, […] genauer vom Gesichtspunkt des Antlitzes des Toten oder der Toten», den «ein Bild zu sehen [gibt]» [23].

Dies ist freilich der Gesichtspunkt der Maske, in der, vom plastischen Standpunkt aus gesehen, entweder alles hervorspringt oder alles hohl ist, [24] bei dem es aber immer darum geht, den Betrachtenden anzublicken und weniger darum, ihm etwas zu sehen zu geben. «Das Bild ist mehr sehend als sichtbar.» [25] Und es ist diese eigentümliche Kraft des Bildes – die zugleich die der Maske und des Visiers ist: der aus dem Bild kommende oder hervorspringende Blick [26] –, die bewirkt, dass die Kraft des Bildes in Kraftlosigkeit und Schwäche umschlagen kann. Immer da, wo das Bild die Kraft hat, den Betrachter anzuschauen, die Innerlichkeit seiner Trauer zu überschreiten und zu verletzen, [27] bezeugt es seine grösste Kraft. Unter dem unerwidert bleibenden, weil traumatisierenden Blick, mit dem das Bild seinen Empfänger trifft, zeichnet sich für Derrida eine – beinahe unmögliche, apriorische und wahre – Modalität der Trauer ab, die den Anderen nicht in die Innerlichkeit und Gemeinschaft der Lebenden zurückholt, sondern ihn vielmehr in seinem Tod, allein mit sich belässt: [28] Und das ist es, was «die Gabe heimlich an den Tod bindet» [29]. Es gibt einen proxemischen Raumcode des Todes, der die kulturellen Distanzen der Lebenden im inneren, intimen, persönlichen, sozialen und öffentlichen Raum unendlich übersteigt. [30]

Die von Barthes und Derrida skizzierte telepathische Distanzsetzung der Überlebenden gegenüber dem Toten zielt auf ein anderes, «geheimnisvolleres Pathos» der Distanz, [31] als jene actio in distans, [32] die kraft der Praktiken der Gabe zwischen Anwesenden möglich ist. Dabei wird das Bild selbst, unter dem Gesichtspunkt der Maske, zum Ort eines doppelten und überkreuzten Gabentausches, in dem die Bilder mehr nehmen als sie geben und die Empfänger mehr geben als sie nehmen. Dieses Ungleichgewicht zwischen einem Überschuss des Nehmens und einem Überschuss des Gebens am Kreuzungspunkt des Bildes entspricht allerdings genau dem, was für Lévi-Strauss die Reziprozität des Gabentausches ausmacht: Reziprozität ist für Lévi-Strauss die Begegnung zweier Irreziprozitäten, Symmetrie die Verkreuzung zweier Asymmetrien. [33] So ist der von Mauss konturierte Gabentausch, wie es scheint, wohl eher eine Praktik der Sozialitätsstiftung unter Lebenden und Anwesenden, während das von Lévi-Strauss bestimmte Prinzip der Gegenseitigkeit einem zweifach asymmetrischen Gabentausch zwischen Toten und Lebenden gewidmet ist.

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