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Die Gemeinsamkeit von historischer und fiktionaler Erzählung liegt folglich in ihrer Referenz, die paradoxerweise zugleich Fremd- und Selbstreferenz ist. Die Darstellung der Zeit ist derselben nicht äusserlich, d.h. kann nur zeitlich erfolgen und generiert wiederum Zeitliches in der Form einer Narration. Dass dies die Unmöglichkeit einer Vollendung und die Betonung einer wesentlichen Offenheit mit sich bringt, ist offensichtlich: Das Scheitern der Darstellung führt letztlich auf die Darstellung selbst zurück, wodurch wiederum partikulär Zeitliches in den Blick genommen werden kann, d.h. eine als Selbstreferenz auftretende Fremdreferenz erfolgt. Zeit und Narration müssen folglich gleichursprünglich gedacht werden, als irreduzibel verwoben.

Um einen weiteren Schritt in Richtung Revision der (traditionellen) Kategorie des Narrativen machen zu können, soll das realistische Erzählen durch die Brille von Ricœurs Narrationskonzept betrachtet werden. Profitiert nicht gerade das realistische Erzählen von der (verdeckten) Verschränkung der beiden narrativen Modi Ricœurs? Wäre es dann nicht auch sinnvoll, die in der Überkreuzung zweier Modi liegende Spannung im realistischen Erzählen aufzusuchen? Inwiefern kann man dann noch von einem linearen, kohärenten Erzählen sprechen? Handelt es sich hierbei gar um eine konstitutive Illusion des realistischen Erzählens?

Die historische Fiktion als Prototyp realistischen Erzählens scheint gerade von der Überkreuzung von historischer und fiktionaler Narration zu leben, wobei der erstgenannte Pol hervorgehoben wird. An der Textoberfläche, beispielsweise in der Erzählhandlung, wird das zu negieren versucht, was Ricœur hinsichtlich der Geschichtsschreibung zeigen will: die unumgängliche narrative Struktur und Prägung von Methode und Gegenstand, ebenso die Anleihe bei der Fiktion im Versuch, die Zeit darzustellen. Das historische Erzählen als Fiktionsgenre macht eine Differenz zwischen den beiden Modi auf, um einen Modus – das fiktionale Erzählen – verbergen und als (rein) historisches Erzählen auftreten zu können. Ricœurs These, dass die Narration die beiden Modi – Historiographie und Fiktion – umfasst, wird negiert, da zwischen Historie und Narration, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden versucht wird.

Die Programmatik des (frühen) realistischen Erzählens basiert letztlich auf diesen Abgrenzungsbewegungen, der Verneinung der Überzeichnung von Wirklichkeit und des Bekenntnisses zur Wahrheit und zur ‹Wesensschau›. 

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