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Was kann das klassische Kompositbild also faktisch leisten, wenn man, wie dargestellt, von einer grundsätzlichen Differenz seine Bildmerkmale ausgeht? Es zeigt erstens pictoriale Gemeinsamkeiten in den schwarzen Flächen, in denen sich ununterscheidbar auch einige konfigurative Gemeinsamkeiten befinden können. Zweitens zeigt es pictoriale und konfigurative Unterschiede in seinen grauen Partien. Wesentlich ist also, dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den montierten Bildern zugleich präsentiert werden, und dass es sich mehrheitlich um Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Kategorien handelt. Sie können zudem in jeder Kategorie vorkommen, aber auch zwischen ihnen und nehmen deutlich zu, wenn mehr als 2 Bilder montiert werden.

Abgesehen davon, was das Kompositbild demonstrieren kann, weist es über seine spezifische Unschärfe (in den gezeigten Grafiken die grauen Partien) hinaus auch eine bildlogische Anziehung auf. Sie lässt sich Wittgensteins Plädoyer für die «unscharfen Ränder» entnehmen, die Galton noch als marginale Details verstanden hatte und die genaugenommen das ganze Bild durchziehen. Die unscharfen Ränder sind bildlogisch deshalb so interessant, weil sich in ihnen tatsächlich Bildmerkmale beider Kategorien überlagern, denn pictoriale und konfigurative Unterschiede zwischen den montierten Einzelbildern finden hier zu einem allgemeinen Ausdruck. In den unscharfen Rändern realisieren sich damit negativ die Verallgemeinerungsansprüche der Kompositphotographie, und zwar ohne tautologisch oder redundant zu werden, denn es sind hier Differenzen sichtbar, die in der Überlagerung selbst entstehen und aus der Verschiedenheit der Bilder resultieren. Das Privileg der grauen Flächen besteht also darin, dass sie zuverlässig Unterschiede verallgemeinern. So muss das Kompositbild letztlich als ein Ausdruck zwischenbildlicher Beziehungen verstanden werden und genau darauf ist Wittgensteins Rezeption des Verfahrens gerichtet.

3. Wittgensteins philosophische Rezeption der Kompositphotographie

Die begriffliche Untersuchung der Kompositphotographie, also die Aufdeckung der bildlogischen Strukturen zwischen einem Komposit und den jeweils in ihm montierten Einzelbildern, hat meines Erachtens mit Wittgenstein begonnen und sie ist bei ihm um den zentralen Begriff der Familienähnlichkeit gruppiert [15],  der selbst wiederum (bild)philosophische Konsequenzen aus falschen Erwartungen gegenüber Allgemeinbegriffen und wissenschaftlich motivierten Verfahren der Universalisierung zieht.

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