>>
[26]

Wittgenstein, Vorlesungen (Anm. 23), S. 243.

[27]

Ders., Das Blaue Buch (Anm. 5), Bd. 5, S. 40f.

[28]

Ders., Vortrag über Ethik, Frankfurt a. M. 1984, S. 10.

 

Wittgenstein hat die Bildlogik des Komposits damit genauestens verstanden, was sich daran erkennen lässt, dass er dessen unscharfe Ränder mit dem Begriff der Allgemeinheit assoziiert: «Nach einer anderen Auffassung des allgemeinen Begriffs ist er so etwas wie ein allgemeines Bild bzw. eine zusammengesetzte Photographie mit unscharfen Umrissen.» [26] Damit beschreibt Wittgenstein die Unschärfe des Kompositbildes nicht als ein künstlerisches Phänomen der stilisierten Verschwommenheit (wie es etwa von Emerson in die Photographie- und Kunstgeschichte des 19. Jh. eingebracht wurde). Er beschreibt hier auch nicht das Phänomen der physiologischen Wahrnehmungsunschärfe, denn das würde pauschal die Wahrnehmung eines jeden Bildes betreffen. Stattdessen geht es um die «unscharfen Umrisse» eines «allgemeinen Bildes bzw. einer zusammengesetzten Photographie» und damit darum, wie im Bereich der Kompositbilder Geltungsansprüche und -zuschreibungen an Bildqualitäten scheitern. So erkennt Wittgenstein, dass die spezifische Unschärfe des Kompositbildes dessen Allgemeinheitsanspruch notwendig destruiert. Diese Beobachtung wird ihm zum Anlass, über eine Korrektur jeglicher Allgemeinheitsbegriffe nachzudenken.

Die besonderen Qualitäten des Kompositbildes, die eben nicht einfach einer statistischen Verallgemeinerung entsprechen, inspirieren so eine philosophische Methode der Unterscheidung und ebenfalls ein philosophisches Programm, das zeigt, welche Konsequenzen aus den Qualitäten der Kompositphotographie und dem Problem der Bildverallgemeinerung auch gezogen werden können: «Die Vorstellung, dass man, um sich über die Bedeutung einer allgemeinen Bezeichnung klar zu werden, das gemeinsame Element in all ihren Anwendungen finden muss, hat hemmend auf philosophische Untersuchungen gewirkt; denn diese Vorstellung hat nicht nur zu keinem Ergebnis geführt, sondern darüber hinaus den Philosophen veranlaßt, über konkrete Fälle als irrelevant hinwegzugehen; Fälle, die allein ihm hätten helfen können, den Gebrauch der allgemeinen Bezeichnung zu verstehen.» [27]

Zunächst wird also ein Perspektivwechsel vorgegeben: Die allgemeinen Bezeichnungen verstehen wir demnach nur über konkrete Einzelfälle, so wie wir das eine allgemeine Bezeichnung sein wollende Kompositbild nur ‹verstehen›, wenn wir es in seine jeweiligen Bild-Komponenten zerlegen. Wittgenstein möchte deshalb nach eigenem Bekunden durch die Aufzählung «eine[r] Reihe mehr oder weniger synonymer Ausdrücke [...] einen Effekt der gleichen Art erzielen wie Galton, als er dieselbe Platte mit den Aufnahmen verschiedener Gesichter belichtete, um so das Bild der typischen, allen gemeinsamen Merkmale zu erhalten». [28]

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