Die Besonderheit der hier gezeigten Fotografie wird schon allein durch die Bezeichnung «K-283» am linken Rand – oberhalb des bei der Digitalisierung hinzugefügten Wasserzeichens des Museumsarchivs Auschwitz – deutlich: Es handelt sich um die Bilddokumentation des 283. Beitrags für einen Ausschreibungswettbewerb (polnisch: Konkurs) für ein Mahnmal in Auschwitz-Birkenau. Dieser international viel beachtete Wettbewerb wurde am 2. Juli 1957 vom Internationalen Auschwitz Komitee mit Hilfe der International Union of Architects ausgelobt. Die wettbewerbstypische Anonymisierung durch eine fortlaufende Nummer lässt sich heute auflösen: So verbirgt sich hinter der Entwurfsnummer «283» kein geringer als der Künstler Joseph Beuys, der im April 1958 einen eigenen Entwurf als Wettbewerbsbeitrag in Oświęcim einreichte.
Auf der Fotografie ist das Holz-Blei-Modell des beuysschen Beitrags zu erkennen, welches – neben einem geforderten Massstabsplan und weiteren schriftlichen Erläuterungen von Beuys – die Idee hinter dem eingereichten Entwurf gegenüber der Wettbewerbsjury präsentieren sollte. Die Fotografie diente also der Dokumentation des vor Ort aufgebauten Modells.
Wie sich zeigen wird, gibt die Fotografie jedoch vor allem die Abweichungen und Differenzen des aufgebauten Modells gegenüber Beuys‘ Entwurf wieder und ist als Dokumentation seines Beitrags trügerisch – dennoch besitzt dieses Bilddokument für das generelle Verständnis des Künstlers Beuys einen hohen Wert, der erst auf einer anderen Ebene deutlich wird.
Beuys ging bei seiner Bewerbung für das Mahnmalprojekt sehr akkurat vor: Er reichte alle Unterlagen pünktlich ein, ergänzte seinen Entwurf mit eigens verfassten Erläuterungen, lieferte einen Kostenvoranschlag für die eigentliche Errichtung und fertigte ein nicht unbedingt gefordertes Modell an. Zusammen mit zahlreichen Vorstudien erlaubt es diese Genauigkeit heute, den Entwurf von Beuys und dessen Idee zu rekonstruieren. Das Modell hatte eine beachtliche Grösse, weswegen sich Beuys entschied, es als Bausatz nach Oświęcim zu schicken. Um einen korrekten Zusammenbau des Modells bemüht, fügte Beuys zudem eigens eine Anleitung zu seinem Aufbau bei. In dieser weist er explizit darauf hin, dass die Plastik nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem – auf der Fotografie im rechten Bildfeld abgebildeten – torähnlichen Objekt zu sehen ist, «sondern frei daneben aufzustellen sei».
Beuys wollte bei der Präsentation seines Entwurfs somit genau das Gegenteil von dem, was die Fotografie veranschaulicht. Denn hier ist die kristalline, aus Blei gegossene Plastik direkt vor dem aus Holz gefertigten Objekt deutlich zu erkennen. Aber nicht nur an diesem Punkt lässt die Fotografie eine Abweichung von Beuys Aufbauplan erkennen: Das Modell besteht in seiner Gänze aus einem weiteren wichtigen Teil, welches der anonyme Fotograf – vermutlich – durch die Wahl seiner Perspektive ausblendet. Neben der gezeigten Torform, sieht das Modell noch eine weitere, viel größere Torform von gleicher Gestalt vor. Somit wird der Wettbewerbsbeitrag von dem Fotografen nur zum Teil gezeigt. Vielleicht wurde sogar das Modell nicht nach den Vorstellungen von Beuys zusammenmontiert, sondern nur zum Teil präsentiert.
Für die Rekonstruktion des Modells ist dies eine spannende Frage, denn wenn es so präsentiert wurde, wie es die Fotografie dokumentiert, so hatte die Jury nur einen Teil von Beuys‘ Arbeit zur Beurteilung des Gesamtentwurfs zur Verfügung.
Die wichtige Bedeutung der hier gezeigten Fotografie ist nicht nur bei der Rekonstruktion und dem Verständnis des Mahnmalentwurfs zu finden, sondern vielmehr bei einem generellen Verständnis der Kunst von Beuys: Denn nur auf dieser einen hier gezeigten Fotografie ist das Modell als ein Modell für ein Mahnmal in Auschwitz-Birkenau zu verstehen. Die hier gezeigte Fotografie ist der einzige existierende Nachweis, der zeigt, wie die Bestandteile als eine Komposition für ein Modell zusammengefügt sind. Beuys setzte nämlich die einzelnen Bestandteile des Modells nach dem Wettbewerb für eine weitere Aktion und für andere Objekte ein: Nachdem Beuys in der ersten Wettbewerbsrunde ausgeschieden war, liess er sich am 28.07.1960 alle Teile des Modells von Oświęcim nach Düsseldorf zurückschicken. Dort angekommen, löste der Künstler die Modellteile aus dem Kontext der Auseinandersetzung mit dem Holocaust.
So lassen sich heute im Œuvre von Beuys alle Teile des Modells – die als Wahrzeichen gestalten Holztore und die kristalline Plastik – wiederfinden. Beispielsweise tauchen die zwei Holzteile fünf Jahre nach der Rücksendung des Modells während der bekannten Aktion «und in uns ... unter uns ... landunter» (1965) wieder auf.
Hier agiert Beuys in gebückter Haltung auf einer Apfelsinenkiste sitzendmit den beiden am Boden liegenden Toren, die er als «gestisches Material» vor sich herschiebt. Im Anschluss an die Aktion legt er die beiden Modellteile im «Block Beuys» des Hessischen Landesmuseum Darmstadt still/ab.Dort befinden sich beide Holztore des Modells bis heute, wobei er das grössere Holztor mit dem Titel «Transformationszeichen» in einer Vitrine im Raum 5 arrangiert und das Kleinere zum Bestandteil einer «Szene aus der Hirschjagd» macht. So ist dieses Modellteil dort im zweiten oberen Fach des bekannten Schrankes mit dem Titel «Szenen aus der Hirschjagd» im Raum 2 aufbewahrt.
Auch die kristalline Plastik aus dem Modell für ein Mahnmal in Auschwitz-Birkenau setzt Beuys in einen neuen Kontext: Sie ist zu einem Tisch mit dem Behelfstitel «Tisch mit Kristall» umgearbeitet, der sich heute in Privatbesitz befindet. Auf jenem quadratischen Tisch ist exakt die kristalline Plastik wiederzuerkennen, wie sie noch in Oświęcim fotografiert wurde.
Dementsprechend setzt Beuys die Teile des fotografierten Modells in andere Kontexte und verwendet sie als Form von Aktionsrelikten immer wieder neu. Der Modellcharakter für ein Mahnmal in Auschwitz-Birkenau wird nur auf dieser einzigen Fotografie dokumentiert; anschliessend werden die Bestandteile des Modells von Beuys selbst zum künstlerischen Material «zurückgeformt» und neu definiert. Die hier gezeigte Fotografie ist somit der einzige Fixierpunkt der Objekte in ihrem temporären Kontext und zugleich vor allem ein Anhaltspunkt über die vielfältigen Transformationsprozesse des Wettbewerbsbeitrags; zwischen dem ersten Entwurf, dem Aufbauplan, dem Modell, der fotografischen Abbildung und der Wiederverwendung der Modellteile in späteren Arbeiten und Aktionen des Künstlers verschiebt sich das Bild von Beuys‘ Mahnmalentwurf immer weiter.
Stephan Rößler