Festzuhalten ist zuallererst, wie ungewöhnlich die hier behandelte Greifendarstellung ist, da sie das Tier im Flug darstellt. Denn obwohl ja per definitionem mit Flügeln ausgestattet, sind naturalistische Widergaben von fliegenden Greifen ansonsten aus der Antike unbekannt. [18] Für vergleichbar dramatische Darstellungen eines fliegenden und kämpfenden Greifen muss man wohl bis zur Frühen Neuzeit oder gar in die jüngste Moderne Ausschau halten (Abb. 5).
Sieht man von der Originalität des Motivs ab, so lässt sich eine stilistische Verwandtschaft des Artemidorus-Papyrus-Greifen zu einer Grabmalerei in Marisa, Palästina, feststellen (Abb. 6).
Obwohl der Greif dort nicht im Fluge präsentiert wird , zeigt er eine ähnliche Ausgestaltung. Auch noch der um vieles später als Mosaikbild ausgeführte Greif der römischen Villa von Piazza Armerina auf Sizilien bietet sich zum Vergleich an (Abb. 7). [19]
Chronologisch nehmen die Tierzeichnungen auf dem Papyrus Artemidorus eine Mittelstellung zwischen der ptolemäerzeitlichen Grabmalerei in Marisa [20] und dem spätrömischen Mosaik von Piazza Armerina [21] ein.
Es schliesst sich die Frage nach dem Verwendungszweck der Tierzeichnungen auf dem Artemidorus-Papyrus an: Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dem Verso des Papyrus tatsächlich um das erste Musterbuch [22] der Antike handelt.