Hoffmann, Quack, Anthologie der demotischen Literatur (Anm. 33), S. 195.
Hoffmann, Quack, Anthologie der demotischen Literatur (Anm. 33), S. 218.
Auch noch der späte Bericht von Timotheus ist nicht unabhängig von Ägypten zu denken, hält man sich vor Augen, dass dieser seine intellektuelle Bildung in Alexandria genoss und zwar als Schüler des Horapollo, also jenes neoplatonischen Gelehrten, der gegen Widerstände eines virulent und immer gewalttätiger um sich greifenden Christentums [32] das pagane Erbe Ägyptens lehrte, und dem wir nicht zuletzt die geistesgeschichtlich so wirkmächtige Hieroglyphika verdanken.
Für unser Greifenmotiv bietet sich nun als literarische Quelle aus dem alten Ägypten jener demotische Erzählzyklus an, der in der Forschung als Mythos vom Sonnenauge oder auch Heimkehr der fernen Göttin bekannt ist. [33] Mit der Datierung der sieben demotischen Fassungen des Mythos vom Sonnenauge ins 2. Jh. n. Chr. und einer partiellen Übersetzung ins Griechische aus dem 3. Jh. n Chr. sind die erhaltenen Textzeugen zwar ebenfalls jünger als die Darstellung im Artemidorus-Papyrus, es gibt jedoch deutliche Indizien, dass zumindest Teile dieses Mythenkomplexes viel älter sind.
Integriert in diesen «vielleicht komplexeste[n] Text der demotischen, ja der ägyptischen Literatur überhaupt» [34] sind mehrere Tierfabeln, die der Weisheitsgott Thot dem Sonnenauge erzählt, um dieses dazu zu bewegen, wieder nach Ägypten heimzukehren. Bei einer dieser Tierfabeln wird der Rahmen durch eine Art philosophisches Zwiegespräch zwischen zwei Geierweibchen namens ‹Seherin› und ‹Hörerin› gebildet, die über die Kausalität der Vergeltung debattieren. Die Tierfabel selber präsentiert den natürlichen Gang des Fressens und Gefressenwerdens im Tierreich.
Die Reihe beginnt mit dem geringsten aller Lebewesen, der Schmeissfliege. Diese wird von einem Gecko gefressen, jener von einer grösseren Eideckse, diese wiederum von einer Schlange usw. Schliesslich wird mit dem Löwen das Ende der Nahrungskette erreicht. Er ist das mächtigste Landlebewesen, das zuvor einen Wels [35] erbeutet hat, nun aber selber vom Greifen davongetragen wird. In der Analyse der Fabel sagt ‹Hörerin› dann zur ‹Seherin›:
«Weißt du nicht, dass der Greif das Abbild [des Todes] ist? Er ist der Hirte von allem, was auf Erden ist. Er ist der Vergelter, dem man nicht vergelten kann. Sein Schnabel ist der eines Falken(?), seine Augen sind die eines Menschen, seine Glieder sind die eines Löwen, seine Ohren sind die Schuppen des …-Fisches des Meeres, sein Schwanz ist der einer Schlange. Die fünf belebten Wesen, die auf [Erden] sind ― wenn er sie in dieser Art darstellt, so deshalb, weil er Macht ausübt über alles, was auf Erden ist, wie der Tod, der Vergelter, welcher wiederum der Hirte von allem ist, was jetzt(?) auf Erden ist.» [36]