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Das Sehen geht immer von einem (oder zwei) im Raum lokalisierten Punkten aus, durch die der Lichtraum sich auf die Fläche der Retina projiziert und sich in konturierte, zweidimensionale Bilder übersetzt. Der Raum des Sehens ist durch diese radikale Selektivität, durch die Beschränkung auf nur einen Blickpunkt bestimmt. Auf die Wände dieser Fast-Blindheit sind die Wahrnehmungsbilder gemalt. Sie entstehen in dem Kino, das der lebendige Körper für das gegenstandsbezogene Bewusstsein ist. Das perspektivische Bild, das Gemälde, das ein solches Wahrnehmungsbild verdoppelt und fixiert, täuscht daher nicht, es zeigt, dass die Täuschung der Wahrnehmung selbst von der Fesselung des leiblichen Sehens an den Augenpunkt abhängt.

Der Träger des perspektivischen Bildes, also des Anblicks, der sich vom vorgezeichneten Sehpunkt aus in der Bildebene zeigt, ist daher der mathematische Raum oder die standpunktlose Sichtbarkeit selbst. Dieser Raum ist unsichtbar, so wie das Material der Fläche unsichtbar ist – als das, was zu sehen gibt. Die Verdrängung des Trägermaterials in der scheinbaren Transparenz der Bildebene ist dem Dimensionssprung zwischen der Endlichkeit des perspektivischen Scheins und der standpunktlosen Sichtbarkeit geschuldet. Die Fläche – als Schnitt durch die Sehpyramide bestimmt und dieser Definition gemäß materiell (farbig) qualifiziert – ist als Scharnier zwischen dem aspekthaften Bild- und Wahrnehmungsraum und der Sichtbarkeit überhaupt bestimmt. Sie partizipiert – und das zeichnet ihre Unsichtbarkeit für das perspektivische Sehen vor – an der Unendlichkeit des Raums der Sichtbarkeit, in den die «Katakombe» der endlichen Wahrnehmung in ebenso unentrinnbarer wie durchschaubarer Weise eingelassen ist. Dass die Wand oder Tafel, in die das perspektivische Bild die scheinbare Raumtiefe gräbt, im Quattrocento tendenziell Teil des geweihten Körpers der Kirche war, ist offenbar nicht unwesentlich. Ehe sie eine idealistische Gewalt gegen die Sinnlichkeit ist, ist die Verdrängung der Materialität des Bildträgers durch die rationale Perspektive die Verwandlung der substanzialen Teilhabe des sakralen Bildes am Unendlichen in eine relationale, die nicht mehr die Kirche, sondern die Mathematik autorisiert.

Es ist für den Fall der Perspektive also klar, dass der Träger nicht objektiviert, freigelegt oder sichtbar gemacht werden kann, ohne ihn als Träger des Bild- und Wahrnehmungsraums zu verfehlen und in ein Objekt zu verwandeln. Ein Objekt, das er auch sein mag, das aber von seiner Funktion als Bildträger ontologisch radikal transformiert wird. Der Träger ist nicht der buchstäbliche Grund des Bildes. Er zeigt sich als die Dimension, auf die das je gegenwärtige Bild, der akute Anblick, genetisch bezogen ist.

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