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Als eine gleichsam pikturale Antwort auf diese theoretische Problemlage lässt sich El Grecos Ansicht und Plan von Toledo, um 1610 gemalt, begreifen. Das Gemälde besteht in einer Ansicht jener spanischen Stadt, die die kastilischen Könige in eine Residenzstadt verwandelt hatten, in Vogelflugperspektive, vom Cerro de la Horca aus betrachtet. Vor der dramatischen Wolkenkulisse sticht die helle, neue Renaissance-Stadt, in der der aus Kreta stammende Maler seine letzten Jahrzehnte verlebte, besonders hervor. Doch inwiefern zeigt das Bild wirklich Toledo? Das prägnanteste Element – der Fluss Tajo – fehlt auf den ersten Blick. Er wird nicht wie die Gebäude am Flusssaum, wie etwa der Alcázar oder die Kathedrale, gezeigt, sondern symbolisch, in Gestalt des personifizierten Flussgotts im linken Bildvordergrund dargestellt, genauso wie die Stadtgründung in der schwebenden Gruppe mit dem Stadtheiligen Ildefonso allegorisch versinnbildlicht ist. El Grecos Veduta reiht die rhetorischen Tropen aneinander, um zu bekräftigen, was sich offensichtlich nicht von selbst versteht: die Referenz auf die reale Stadt.

Das wohl erstaunlichste Beispiel dieser rhetorischen Bemühungen, zu zeigen, worauf das Gemälde zeigt, befindet sich im rechten Bildvordergrund: der Sohn des Malers, Juan Manuel, breitet mit beiden Armen vor dem Zuschauer einen Plan von Toledo aus. Die körperliche Zeigegeste des Doubles – des Sohnes – entspricht einem buchstäblichen «Vor-Zeigen»: sie nimmt auf dem Proszenium des Bildes, im Nahraum gestischen Vorweisens, die bildliche Zeigegeste des Malers vorweg. Im selben Zuge deckt sie jedoch auch deren geheime Logik auf: dass Gemälde, ganz wie Karten, doch immer nur flach sind. Diese Vorbühne wird nun noch zum Schauplatz eines weiteren Geständnisses. Die vom Sohn dem Zuschauer entgegengehaltene Karte erhält eine Aufschrift – gleichsam als weitere Stufe der Mise en abyme –, auf der El Greco erklärt, dass es notwendig gewesen sei (ha sido forzoso), die  Übersichtlichkeit um den Preis einiger Verzerrungen und Verschiebungen zu erkaufen. Das Hospital de Tavera, das aus diesem Blickwinkel eigentlich weite Teile der Stadt hätte verdecken müssen, wird aus dem Gefüge herausgebrochen und schwebt nun frei auf einer Wolke, «als Modell», wie sich der Maler ausdrückt (como modelo).

An Grecos Gemälde ist zu recht der bahnbrechende Charakter hervorgehoben worden. Sergej Eisenstein sah im freien Umgang mit den Gebäuden und ihren Ansichten die erste Formulierung der Montage, Louis Marin las das Bild als Selbstdekonstruktion der Repräsentation und Victor Stoichita als Spaltung des Blicks zwischen Tiefen- und Flächenräumlichkeit. [2] Das Werk gilt einigen sogar als Illustration von Leibnizens Perspektivismus, wonach «ein und dieselbe Stadt gemäß der verschiedenen Standorte dessen, der sie betrachtet», verschieden darstellt und doch in ihrem Begriff alle Perspektiven in sich vereint. [3]

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