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Ideal

Um die Fortifikationstheorie zu verwissenschaftlichen und empirische Gestaltungsspielräume der Baupraxis möglichst einzugrenzen, brauchte es verbindliche Standards. Zunächst gelang es nicht, Formkonzepte zu generalisieren. Aber aus der Wehrbaupraxis konnten Prämissen generiert werden, aus denen konkrete funktionsfähige Formen resultierten. Daniel Specklin war einer der ersten, der lehrsatzmässige Axiome zusammenstellte: 1. Je mehr Seiten ein Polygon hat, umso stärker ist die Befestigung; 2. Spitze und stumpfe Bollwerke taugen nicht; rechtwinklige sind am besten; 3. Italienische Bastione sind zu klein, grosse sind viel besser; 4. Kavaliere auf den Bollwerken sind zweckmässig; 5. Flanken können rechtwinklig auf die Defensionslinie bezogen werden; 6. Kasemattierte Galerien für die niedere Grabenverteidigung sind nützlich; sie können als Konterminen dienen und sollten nur für die Infanterie konzipiert werden; 7. Grosse Ravelins steigern die Widerstandsfähigkeit der Bastionärsbefestigung; 8. Der Bedeckte Weg ist einer der wichtigsten Bestandteile; 9. Nur diejenigen Teile der Wälle dürfen aus Stein sein, die der Feind nicht sehen kann.

Aus diesen Axiomen leitete Specklin feste Linien-Winkel-Konstellationen ab, die er als Manier und mit grossem Aussenwerkring als sog. Verstärkte Manier vorstellte. Seine Konzepte waren erfolgreich, weil sie sich für niederländische Festungen mit Erdwällen in der Ebene ebenso eigneten wie für italienische Festungen, die an den ballistisch ungünstigen steingefütterten Wällen festhielten. Ausserdem war Specklins Geometrie stringent: Sie beruhte auf einer schlüssigen Proportion und konnte auf topographische Situationen reagieren.

Noch vor 1600 wurden die fortifikatorischen Konzepte systematischer. Aus den praktischen Erfahrungen zwischen Ballistik und Wehrbaukunst, der Kriegs- und Belagerungskunst resultierten fortifikatorische Prämissen wie Schusslängen oder Durchschlagskraft. Mathematische Parameter wie Defensionslinienlängen, Winkelgrössen und Wallstärken wurden abgeleitet und in optimierten Modellvorstellungen zusammengefasst. Der Italiener Pietro Sardi gehörte zu den ersten, die von Specklin ausgehend die Fortifikation wissenschaftlich fundierten. [12] Anstelle von Festungsbauwerken wurden nun virtuelle Raumkörper der Schussbahnen konzipiert. Die Wälle begrenzten und definierten diesen Flankierungs-Bestreichungs-Körper. Die Fortifikationskonzepte blieben zwar individuell geprägt, doch dienten sie den Ingenieuren als modellhafte Vor- und Schaubilder. Bisher hatten szenographische Bilder beweisen sollen, wie sich Wehrbauten in der Praxis bewährten (Abb. 7).

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