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Der Film war damit das ideale Medium, um die flüssigen Kristalle als lebhafte Objekte zu konstituieren. Dementsprechend beeindruckend müssen die Vorführungen von Lehmanns Film gewesen sein: «Bei Vorführung der ganzen Serie sieht man das Hervorschießen und Schlängeln der wurmförmigen Fortsätze so deutlich, wie am Objekte selbst», schrieb ein zeitgenössischer Beobachter. [23] Das kinematographische Verfahren verwandelte Kristalle von starren, quasi-zeitlosen geometrischen Objekten in aktive, sich in ständiger Bewegung befindliche Entitäten, deren Bewegungen jenen von Einzellern zum Verwechseln ähnlich sahen. Die solcherart hergestellte visuelle Evidenz einer Lebhaftigkeit der Kristalle war notwendig, damit diese die Funktion von Modellen für Lebewesen einnehmen konnten. Lehmann spielte hier bewusst mit einer Ambivalenz, der zufolge auf der einen Seite der – vor allem visuell hergestellte – Anschein der Lebendigkeit dominierte, auf der anderen Seite aber der Aspekt der blossen Analogie, des «Als Ob». Eine Modalisierung des Lebendigkeitseffekts leisteten vornehmlich die Texte, weshalb es für Lehmanns Strategie zentral war, dass die Betrachter und Leser einen Weg vom Bild zum Text und wieder zurück fanden.

Multimediales Verweissystem

Lehmann war ein ausserordentlich produktiver und vielseitiger Autor. Seine Publikationen umfassen Fachbücher und Aufsätze in Fachorganen, aber auch populärwissenschaftliche Bücher und Broschüren sowie Aufsätze in populärwissenschaftlichen Zeitschriften. Die meisten seiner Schriften waren (zum Teil aufwändig) illustriert, wobei sich die Art der Illustrationen nach der Art der Publikation richtete. Eine 1907 erschienene populäre Abhandlung stellte die flüssigen Kristalle in Form eines Gesprächs zwischen einem Chemiker, einem Kristallographen und Lehmann selbst vor. [24] Gleich zu Beginn des Buches fand sich ein vergrösserter Ausschnitt aus einem der Kader des Films (Abb. 1). Auf diese Abbildung wurde bei folgender Textstelle verwiesen: «Ich sehe eine unendliche Mannigfaltigkeit von Formen, Bakterien und Würmern, einfache und doppelte Kugeln, Rosetten und Schlangen, alles in tollem Durcheinander sich bewegend dann wieder plötzlich zusammenzuckend wie Infusorien in einem Wassertropfen! (Fig. 1 a b c [...].)» [25] Hier bewirkte die sprachliche Beschreibung die Lebhaftigkeit, die bei der Betrachtung des Films durch die Projektion selbst vermittelt worden wäre. Die Sprache gab vor, wie das Bild zu lesen sei: nämlich als Momentaufnahme eines in Bewegung und Veränderung befindlichen Prozesses. Gleichzeitig macht der Rest des Textes klar, dass es sich hierbei um Phänomene handelt, die rein physikalisch erklärbar sind und deren Ähnlichkeit mit biologischen Erscheinungen keineswegs bedeutet, dass sie selbst als Lebewesen aufgefasst werden müssen. [26]

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