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Die Visualisierungen dienten nun dazu, eine Übergangsstufe zwischen der ungeordneten Materie und den Mikroorganismen zu postulieren und dem religiösen Schöpfungsglauben einen monistischen Hylozooismus entgegen zu stellen.

Bilder isoliert zu betrachten ist eine Rezeptionsleistung. Sie nur im Sinne eines 'Sichzeigens' zu verstehen bedeutet, sie aus ihren Verweiszusammenhängen herauszulösen oder diese zu ignorieren. Das heisst aber unweigerlich immer auch, sie in andere Verweiszusammenhänge einzubetten – selbst, wenn man versucht, diese möglichst in den Hintergrund treten zu lassen. Ein «Evidentmachen» kann aber nur auf der Grundlage «spezifisch gebildete[r] und kultivierte[r] Anschauungsfähigkeit» gelingen, hängt also von kulturellen Bedingungen ab, die nicht alleine aus einer Logik des Bildlichen abzuleiten sind. [40]

Schlussfolgerung

Um Modelle als Argumente innerhalb einer antagonistischen Konstellation zu etablieren, bediente man sich um 1900 oft Verfahren der Visualisierung, die diesen Modellen Plausibilität und Evidenz verliehen. Im Falle der flüssigen Kristalle musste plausibel gemacht werden, dass sie Eigenschaften aufwiesen, die sie als lebensähnlich charakterisierten. Dies geschah, wie gezeigt wurde, durch spezifische Visualisierungsstrategien. Die hierfür produzierten Bilder waren aber in ein Verweissystem eingebettet, das dem Sichtbaren überhaupt erst Evidenz verlieh. Gleichzeitig dienten die Verweise auch dazu, den Kristallen den Status von Modellen zuzuschreiben. Während die visuellen Strategien die Kristalle verlebendigten, wurden sie durch die Sprache modalisiert. Damit schuf Lehmann das paradoxe Objekt der ‹scheinbar lebenden› Kristalle – Entitäten, die nicht selbst lebendig, aber ‹lebhaft› waren, insofern sie überraschende Eigenschaften von Lebewesen aufwiesen, und die damit als Argumente für die prinzipielle Möglichkeit einer mechanistischen Erklärung biologischer Vorgängen dienen konnten.

Die Art und Weise, in der die Bilder Lehmanns in ein Verweissystem eingebettet waren, legt nahe, dass es so etwas wie ‹das› wissenschaftliche Bild nicht gibt. Bilder treten niemals isoliert auf. [41] Anstatt nach dem Wesen des wissenschaftlichen Bildes zu fragen, scheint es demnach sinnvoller, die jeweiligen Verwendungsformen bestimmter Bildtypen und ihre Einbettung in Verweissysteme zu untersuchen. Manche Bildtypen sind selbst an bestimmte ‹Bilder der Wissenschaft› gekoppelt. Diese dienen nicht nur dazu, wissenschaftliche Verfahren oder Objekte zu visualisieren, sondern vermitteln bereits durch ihren Stil eine bestimmte Vorstellung davon, was Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit ist.

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