Curtis, Die kinematographische Methode (Anm. 21), S. 40.
Diese Faszination für die wunderbaren Aspekte moderner Technik übertrug Lehmann auf die flüssigen Kristalle: So drückte er immer wieder die Hoffnung aus, dass seine Entdeckung eine «neue Maschinentechnik» ermöglichen würde, «deren Maschinen mit weichen und halbflüssigen Stoffen arbeiten» und mittels derer es gelingen würde, «jenen äußerst leichten und dennoch äußerst ergiebigen Motor zu erfinden, dessen Mangel das größte Hindernis für die bis jetzt so sehnlich und doch vergeblich erhoffte praktische Entwicklung der Flugtechnik bildet.» [20]
Mit der Betonung der phantastischen Dimensionen der modernen Technik intervenierte Lehmann in einen Kampf um Deutungshoheit. Denn die vitalistischen Philosophen und Biologen hatten die Technik und alles ‹Mechanische› als einengend, nivellierend und gleichförmig gekennzeichnet und der Spontaneität des Lebendigen entgegen gesetzt. Das Medium Film konnte mithin dazu dienen, die flüssigen Kristalle in den Kontext eines ‹alternativen› Mechanizismus zu setzen, der sich nicht durch leblose Uniformität, sondern durch Lebhaftigkeit auszeichnete, das heisst durch die Fähigkeit, überraschende Effekte hervorzubringen.
Während dieses Bedeutungsfeld die Technizität der Kristalle in den Vordergrund rückte, betonte ein anderer Aspekt der Kinematographie deren Lebendigkeit. Denn was den Film für Lehmann als Präsentationsmedium ebenso interessant machte war seine Macht, Dinge im wahrsten Sinne des Wortes zu animieren. [21] Biologen hatten rasch erkannt, dass filmische Verfahren eine Synthese erlaubten, die das analytische Vorgehen der Experimentalwissenschaft ergänzen konnte. Gerade im mikroskopischen Bereich eröffnete die Kinematographie neue Möglichkeiten der Darstellung. So war es nun möglich, Zellen anstatt als Serie fixierter und toter Einzelpräparate als lebendige, in der Zeit existierende Ganzheiten zu präsentieren. Der Effekt, der durch die Projektion erzeugt wurde, hatte selbst eine epistemische Dimension, insofern er einen ganz bestimmten Aspekt des Lebendigen in den Vordergrund rückte: nämlich den des Lebens als aktiven und prozesshaften Vorgangs. So erlaubten es Verfahren des Zeitraffers zu zeigen, dass auch das, was für die normale Beobachtung regungslos erschien, mit Bewegung gesättigt war. Wissenschaftler benutzten den Film nicht nur, weil er die Beobachtung unterstützen und aufzeichnen konnte, sondern «weil sie in ihm einen Geistesverwandten fanden, einen Partner, der ihre Vision teilte und die Welt ganz ähnlich repräsentierte.» [22]