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Warum Film? Die Visualität der Gesellschaft

«What makes the social is not only its actualized structures, stratifications and segments but also its virtual potentialities which are significant without becoming necessarily actualized». (Bülent & Laustsen) [8]

Die Soziologen Bülent Diken und Carsten Bagge Laustsen betrachten den fiktionalen Film als Ressource für eine Sozialtheorie, die Kinofilme nicht lediglich als Spiegel des Sozialen verhandelt. Vielmehr adressieren sie den Film gleichzeitig als Allegorie des Sozialen und als ein Objekt, das selbst Sozialtheorie enthält. [9] Zwischen dem soziologischen und dem filmischen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht demnach eine Wesensverwandtschaft, die den Film als Quelle soziologischen Wissens qualifiziert. Der fiktionale Film erzeugt ein spekulatives Wissen, das gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken beobachtet und diese filmischen Beobachtungsleistungen der Gesellschaft als semantische Ressourcen der Welt- und Wirklichkeitsdeutung zur Verfügung stellt.

Unsere These lautet, Diken und Laustsen folgend, dass sich selbst in dem vielfach als «unrealistisch» etikettierten Spektakelkino Hollywoods ein visuelles Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft formiert, das in einem experimentellen Raum von Gesellschaftsbeobachtungen liegt und schliesslich die Antizipationsleistung von populären Kommunikationsofferten hervorhebt. Filmische Beobachtungen werden dadurch als Innovationssemantiken für die moderne Gesellschaft bedeutsam, die aufgrund ihrer rasanten Veränderungsdynamik eine Ebene benötigt, «auf der beständig, experimentell neue [...] Selbstbeobachtungen [...] entwickelt und (relativ risikolos) getestet werden können.» [10]

Diese prekäre Wissensform vermag dabei sogar schneller auf gesellschaftliche Umbrüche zu reagieren als z.B. wissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtungen. «[The] speed», so auch Nicolas Pethes, «by which popular culture creates different future scenarios enhances the possibility that one of those scenarios will come true.» [11] In ihren ‹seismografischen› Qualitäten erweisen sich populäre Filmfiktionen daher als besonders luzide Beobachtungsinstanzen, an denen die Gesellschaft sich gegenwärtig und zukünftig orientieren kann. Diken und Laustsen schliessen in einem Rückgriff auf Deleuzes Kinobücher [12] auf ein dialektisches Verhältnis von Aktuellem (das reale Soziale) und Virtuellem (das imaginierte Soziale) und rekonzeptualisieren diese beiden Begriffe als Aktualisierung und Virtualisierung von sozialem Sinn.

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