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In diesem Rahmen haftet das Virtuelle dem Aktuellen an und vice versa; die Dichotomie zwischen Realität und Fiktion wird aufgelöst zugunsten einer «socio-fiction» [13]. «In relation to the social», so die beiden Autoren, «cinema is an indicator of a virtual, a coming society, which does not exist but rather persists alongside the actual society». [14]

Das von den Autoren anvisierte Programm einer Sociology through the Projector trägt offensichtlich die Züge einer popkulturellen Subversion der Sozialtheorie und nimmt zugunsten der Auflösung der starren Dichotomie von Realität und Fiktion eine gewisse theoretische Unschärfe bewusst in Kauf. Der Kern ihrer Argumentation bleibt davon jedoch unberührt; jeder Film integriert Wissen über das Soziale, und jeder Film wirkt sich gleichsam auf die Formierung von Wissen über das Soziale aus. Das Hollywoodkino enthält mithin immer einen «Wirklichkeitsrest», [15] einen Verweis auf eine Realität ausserhalb der filmischen Fiktion.

Durch die Orientierung an ‹realen› Verhältnissen bleibt die soziale Anschlussfähigkeit von Filmen an eine ausserfilmische Welt gewahrt, während die Virtualisierung den fiktionalen Film zum Labor gesellschaftlicher Organisations- und Selbstbeschreibungsmodelle werden lässt. In ihrem Zusammenwirken erzeugt das Wechselverhältnis von aktuellem und potenziellem Sinn somit eine Art filmisches Experiment des Sozialen. Es geht dann, kurz gesagt, um die Beobachtung filmischer Beobachtungen, in denen gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und Formen menschlichen Zusammenlebens reflexiv werden. Mit dem Label Visualität der Gesellschaft bezeichnen wir im Folgenden eine solche Sichtweise auf den Film, die sich Sinnressourcen widmet, welche explizit an die visuellen Möglichkeiten des Films gebunden sind. [16]

In Bezug auf die Figur des Virus waren es nicht zuletzt fiktionale Filme, die für die Ausweitung der Metapher der Viralität auf soziale Kommunikationsformen wie Gerüchte und Marketing [17], aber auch auf die subversive Unterwanderung der herrschenden Gesellschaftsordnung sorgten [18]. Ausgehend von Bildern der Verbreitung viraler Infektionen wurde ‹Ansteckung› zum Begriff einer «organischen Medialität» [19], die relativ unabhängig vom Menschen bleibt. Sie ist weder von Intentionen des menschlichen Trägers, noch von einer zielgerichteten Verbreitungsstrategie abhängig, sondern lediglich von direktem oder vermitteltem Kontakt. Für die Verbreitung infektiösen Gutes – ob im Produktmarketing oder im Guerillakrieg – ist diese Art der Ansteckung deshalb so wichtig geworden, weil sie das Gegenmodell zu einer – durch die Totalitarismen im 20. Jahrhundert verkörperten – Einflussnahme ‹von oben› geworden ist.

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