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Wolfram Hogrebe, Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, S. 182.

 

Mullican verortet seine Strichfiguren oft in einem Rahmen, teilweise ist dem noch ein Horizont hinzugefügt. Diese räumlichen Achsen geben der dargestellten Figur eine (An-)Ordnung, innerhalb der die Handlung sich vollzieht, – so beschreibt er mit der Framed Stick Figure eine Rahmung mit einem fiktionalen Ausblick auf eine vorstellbare alltägliche Situation. Die mit einem Untertitel versehenen Zeichnungen liefern dem Betrachter nähere Charakterisierungen zur Darstellung der Strichfigur. Im Erfassen des Bildlichen stellt sich so ein besonderes Sehen ein, ein abwechselndes Sehen, Lesen und Imaginieren.

Die Abstraktion der Figur, die Mullican ursprünglich über das Durchpausen fotografischer Darstellungen von Menschen fand, setzt sich aus wenigen Strichen für die Glieder und einem Oval für den Kopf zusammen. Die Gelenkpunkte sind nicht eigens eingezeichnet. Durch das An- und Absetzen des Tuschestifts vermitteln diese ihre Anwesenheit über das Mehr an Farbe – sichtbar als Schulter, Ellbogen, Knie- oder Fussgelenk. Mit der Abkehr von einer mimetischen Darstellung des Menschen entsteht ein Moment der Distanz auf der Seite der Konstruktion des Bildes wie in der Wahrnehmung. Diese Distanz vermittelt sich sowohl durch die Technik der Pause als auch in der Anschauung der abstrakten Figur. Umgekehrt entfaltet sich in der abstrakten Darstellung gerade darin ein Potenzial der Anschaulichkeit, das in ihrer Abstraktheit unmittelbare Nähe als Projektionsfläche suggeriert. Abstraktion und Reduktion stehen bei Mullican im Vergleich zu den schematischen Figuren der Renaissance nicht in einer Beziehung zu Regeln der Proportions- und Massverhältnisse, vielmehr sind Mullicans Strichfiguren in der Paustechnik geschaffene und der Wirklichkeit entlehnte abstrakte Figuren. Die Abstraktion und Reduktion seiner Figur als Modell wird zum Anlass für Projektionen und die Beseelung des Bildes genommen. Wolfram Hogrebe führt mit Blick auf die Diskussion des Bildes als Modell und seinem offenen Charakter aus: «Wer autonomer Kunst begegnet, muss beseelen können wie die Kinder, die mit ihren hölzernen Puppen sprechen. Wer in diesem Sinne nicht animieren kann, für den bleibt die moderne Kunst tot. Solche animierenden Energien können schon im Wahrnehmen, im Hören und Sehen wirksam sein.» [77]  Dem Betrachter wird die Kompetenz der visuellen Sinnstiftung zugeordnet, die zugleich die Fähigkeit zur Animierung erfordert, das Vermögen, mit blossem Auge ein Bild zu schaffen.

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