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Um die Besonderheit der lebendigen Figurendrastellung dieser Zeichnung über die Funktion eines Modells hinaus als Bild vor dem Hintergrund der Proportions- und Bewegungslehre herauszustellen, aber auch, um die Fragen aus dem historischen Kontext heraus differenzierter beantworten zu können, werfen wir einen Blick auf weitere Beispiele aus Lehrbüchern nördlich der Alpen mit ihren Bildern und Begriffen.

[25]

Vgl. Rupprich, Dürer. Schriftlicher Nachlass (Anm. 15), S. 7.

[26]

Ebd.

[27]

Bonhoff, Das Diagramm (Anm. 14), S. 63.

 

Die Bücher der Proportions- und Bewegungslehre: Die Simplizität der Bilder und ihre Begriffe

Nördlich der Alpen setzt die Kunstliteratur mit Albrecht Dürers umfangreichem Schriftwerk an der Wende des 15. Jahrhunderts zum 16. Jahrhundert ein. Kennzeichnend ist nicht nur die Verbindung von Kunst und Theorie, sondern der Wille zur Vermittlung seiner Studien und Erkenntnisse in Lehrschriften für die breite Künstler- und Handwerkerschaft. Einerseits lagen die Grundlagen für sein Proportionswerk noch in der mittelalterlich-biblischen Überzeugung, dass der Weltschöpfer alles mit Mass, Zahl und Gewicht geordnet habe, andererseits, dass der verständige Künstler vom Geiste Gottes erfüllt sei und die Gleichheit zum Weltenschöpfer hiermit gegeben sei. [25] So fasst Rupprich für Dürers Hauptwerk zusammen: «Die Kunst der Messung, d.h. eine Gestalt mit Zirkel und Richtscheit im richtigen Zahlenverhältnis sinnreich zu konstruieren, ist daher auch der ‹recht grund› aller Malerei.» [26]  Die Messungskunst als Lehre war ein Suchen und Erkennen der richtigen Mass- und Zahlproportionalitäten, die anhand der menschlichen Gestalt erprobt wurde. Diese Bücher stellten Unterweisungen und Anleitungen dar, wie die Figur in ihren Proportionen und Bewegungen zu entwerfen sei. Sie geben einen Einblick in die Lehre der Konstruktion und der Darstellung der Figur, ihrer Masse und Spezifikation. Aus der Anschauung und der Vermessung erhaltener Zahlenverhältnisse werden die abstrakten Figurdarstellungen zu der «Anschaulichkeit dienende[n] Sinnbilder[n]». [27] Die Bilder wurden aus der Reduktion und Konstruktion, aber wesentlich durch Abstraktion erreicht, sie sind nach streng geometrischen Regeln gewonnene Darstellungen menschlicher Proportion und (mechanischer) Bewegung. Dabei brachte Dürer in seiner Proportions- und Bewegungslehre die geometrische Figur nicht als Resultat empirischer Vermessung des Körpers am lebenden Menschen hervor, sondern, wie Berthold Hinz dargelegt hat, entwickelte Dürer Verfahren, die das Zuweisen von Massen an ein Körpermodell oder das nachträgliche Abmessen der zeichnerisch entwickelten Modelle darstellen. [28]

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