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T.H. Das Staunen wird auch im Bild rätselhaft.

N.M.: Das Staunen über die Gegebenheiten hat viel mit dem Zeichnen zu tun, denn das Eine könnte ein Anderes sein, im Leben wie in der Zeichnung. Zum Beispiel in den Zeichnungen, in denen sich unterschiedliche Perspektiven überlagern. Die Blicke auf die Welt aus dem Flugzeug waren ein Schlüsselerlebnis für mich. Wenn das Flugzeug im Landeanflug über der Erde kreist, scheint sich der Boden manchmal aufzurichten und sich dem Auge schräg entgegenzuklappen. Zusammen mit der Geschwindigkeit eröffnet sich eine fremde Perspektive auf die vertraute Welt. Mit den zunächst räumlich orientierten Worten Perspektive und Blickwinkel werden auch Haltungen und Einstellungen bezeichnet, also Sichtweisen des Denkens, die veränderlich, vorübergehend, als falsch oder richtig betrachtet werden, je nachdem, wo sich der eigene Standort befindet. Mit dem Blick aus dem Flugzeug erlebe ich etwas realiter, ich kann also sehen, was ich aus dem Alltag kenne. So begann ich im Flugzeug, den Blick auf die Welt zu zeichnen, die unterschiedlichen Perspektiven, und diese Erfahrungen im Atelier auf grösseren Formaten anhand von Linien zu transformieren: Linien, die Gesehenes nachvollziehen und freie Linien, vermischt mit den Zeichenkonventionen aus der Kartografie und Meteorologie. Es sind Zeichnungen, die beides gleichzeitig zeigen: den Blick auf die Welt und die Welt im Kopf mit der Dynamik wechselnder Perspektiven und einer unaufhaltsamen Bewegung. Es sind schwankende Räume, die keinen festen Bezugspunkt mehr haben.

Bereits mit den ersten Ballonfahrten hatte sich für die Menschheit ein ganz neuer Blick auf die Welt eröffnet, der aus heutiger Sicht recht beschaulich ist. Durch die grosse Geschwindigkeit und die Neigungswinkel der Flugzeuge beim Fliegen ist eine weitere, faszinierende und verwirrende Dimension des Blicks dazugekommen, die relativ neu ist, mehrere Perspektiven gleichzeitig suggeriert und viel mit unserem heutigen Lebensgefühl zu tun hat.

In diesen Zeichnungen, die ich «Papierperspektive» nenne, habe ich auch die Zeit im Verhältnis von Sehen, Denken, Bewegen, also von Blick und Hand, thematisiert. Die langsame Hand, die zeichnet, kommt während des Fliegens aufgrund der Geschwindigkeit dem Blick, der mitfliegt, nicht hinterher. Das Stück Erde hinter dem Flugzeugfenster verschwindet kontinuierlich aus dem Blickfeld, bevor es auf dem Papier fixiert werden kann, das direkte Anschliessen an das bereits Gezeichnete ist nicht möglich und vollzieht sich im Übereinanderzeichnen von dem, was sich neu im Blickfeld zeigt. Nicht hintereinander, sondern übereinander.

<<  Ausgabe 03 | Seite 151  >>