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N.M.: Die Fehler helfen, sich etwas wieder zu erobern oder vielmehr zurückzuerobern, sie können auf etwas hinweisen, wo man noch nicht war. Das klingt paradox. Bestimmte Dinge kann man ja irgendwann, man beherrscht sie, man kann sie wiederholen. Die Wiederholung ist eigentlich auch etwas sehr Wichtiges und Gutes, gerade auch deswegen, weil es keine hundertprozentige Wiederholung gibt, sondern nur Annäherungen. Man muss sehr viel wiederholen bis man an einen Punkt kommt, an dem sich wieder Etwas öffnet und etwas Neues einstellt. Das ist fast eine Methode. Etwas Neues wird durch Wiederholung oder durch Widerstand ermöglicht.

T.H.: Oder durch Wiederholung und Widerstand?

N.M.: Das wären zwei Wege. Wiederholung ist ein Prozess, in den man sich einschwingt, wohingegen Widerstand eher das Gegenteil ist, etwas Festes, das sich mir entgegenstellt. Widerstände fordern andere Verhaltensweisen heraus als das Sich-Einschwingen in die Wiederholung. In der Wiederholung ergeben sich Varianten bzw. Abweichungen, und durch Abweichung entsteht etwas Neues. Es gibt ja auch in den Naturwissenschaften den Ansatz, dass die menschliche Spezies durch Abweichung von einem genetischen Programm entstanden ist.

T.H.: Das wäre ein schönes Modell für das Neue im Zeichnen.

N.M.: Aber man muss beim Zeichnen oft auch im Prozess insistieren. Kampf und Beiläufigkeit laufen zusammen. Ich kann das schwer erklären. Am Schönsten ist für mich im Zeichnen der Zustand einer Mischung aus Konzentration, Achtsamkeit und Wachheit, gepaart mit einer Lockerheit im Sinne von «ganz egal!».

T.H.: Die Schwierigkeit, diese Erfahrungen in Worte zu fassen, berührt ein Thema, das ich mit Ihnen gerne noch besprechen würde. Das Verhältnis von Praxis und Theorie der Zeichnung, oder, wenn Sie wollen, in der Dreiteilung von praxis, poiesis und theoria, das Verhältnis von Handeln, Kunst und Theorie. Aber vor allem, wie verhalten sich Tätigkeit und Reflexion zueinander? Der Corpus der Zeichnung und das Gebäude der Theorie?

N.M.: Die Zeichnung ist ja zunächst ein anderes Medium als die Sprache, gleichwohl zeichnen und schreiben einander verwandt sind. Wir Zeichner arbeiten in die Sichtbarkeit hinein und entwerfen so eine Welt, ein Gedankengebäude, wie auch immer… Die Philosophen haben einen Gedankenkosmos, den sie dann in Sprache übersetzen. Es sind eigentlich immer Übersetzungsvorgänge. Ich übersetze etwas, das mich beschäftigt und das ich vielleicht noch nicht benennen kann.

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