>>
 

Um es «benennen» zu können nutze ich die Zeichnung. Sie, ein Philosoph oder ein Kunstwissenschaftler, machen das auch, aber sozusagen mit einem gedanklichen Begriffsapparat übersetzt in Sprache. Natürlich kommt man da zu anderen Ergebnissen, weil die Medien, in denen gedacht wird, andere sind. Ich finde es hoch interessant, dass sich Wissenschaftler mit der Zeichnung befassen, als Künstler kann man davon profitieren und sich in seltenen Fällen darin wiederfinden. Man liest einen Text, zum Beispiel Derridas Aufzeichnungen eines Blinden, ist fasziniert, oder Merleau-Pontys Das Auge und der Geist. Da spricht jemand etwas aus in einer präzisen, wunderbaren Sprache, und man merkt sofort, ja, so ist es, da ist ganz viel von dem, was ich schon immer empfunden habe, aber nie so hätte sagen können. Der wechselseitige Austausch von Kunsttheoretikern und Künstlern kann bereichernd sein, gleichwohl Wissenschaftler ihre eigenen Diskurse führen, ungeachtet dessen, ob sie auf die Künstler in irgendeiner Weise zurückwirken. Künstler denken in der Regel nicht in wissenschaftlichen Kategorien, aber es gibt immer wieder Brücken.

T.H.: Ein Schlüsselbegriff der späten Dekonstruktion, bei Nancy und Derrida, ist das «Berühren». Ein Begriff, der selbst über sich hinausweist und nach einer möglichen Öffnung der Philosophie fragt. Das Berühren überschreitet ein begriffliches Register und verlangt daher immer auch nach Berührungspunkten zum Alltag oder zur Kunst. Man kann es nicht auf den Begriff bringen. Im Berühren konvergieren in diesem Sinne Zeichnen und Denken. Es ist also auch wichtig, dass diese Öffnung überhaupt besteht, damit die Theorie der Zeichnung zur zeichnenden Theorie gelangt.

N.M.: Das Berühren hat eine geistige, emotionale und körperliche Dimension wie das Zeichnen auch. Und es bleibt die Frage: Warum zeichnet man eigentlich? Warum tut man das? Warum diese Berührung?

T.H.: Warum zeichnen Sie? Warum tun Sie das?

N.M.: Als ich damit anfing, wusste ich das nicht. Aber es gab eine ganz grosse Motivation, ohne zu wissen warum und ohne zu wissen, was es eigentlich ist. Diese Motivation hat bis heute nicht nachgelassen, und im Laufe der Jahre zeichnete sich für mich allmählich ab, worum ich kreise. Ich kann es vielleicht so sagen: Ich glaube, es gibt ein Defizit, das andere so vielleicht nicht haben oder empfinden. Die Frage: «Wo bin ich hier eigentlich?» hat mich seit Kindertagen umgetrieben. Es geht mir darum, mir die Fremdheit und Widersprüchlichkeit, aber auch den Reichtum des Daseins anzuverwandeln, etwas von der Welt zu begreifen, sie befragend zu umrunden und dieses Etwas in die Sichtbarkeit zu bringen.

<<  Ausgabe 03 | Seite 157  >>