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John Berger, Berger on Drawing, Aghabullogue 2005.

 

Am Anfang steht für mich eine mehr oder weniger deutliche Ab-Sicht, die bildlos sein kann, eine spezifische Art von Ahnung, ein Etwas, von dem ich mich zeichnend abstosse. Das Etwas kann ein Augenblick, ein Bild, ein Wort, eine Frage, eine Erinnerung usw. sein. Der Beginn ist meistens vage, der Auslöser jedoch spezifisch, indem er mich inspiriert bzw. anstachelt. Im Prozess des Zeichnens, im Austausch von Imaginärem und Sichtbarem wandelt und präzisiert sich die Vorstellung und damit auch die Inhaltlichkeit. Mit neuen Bildfindungen komme ich zu neuen Erkenntnissen. Eine Zeichnung ist viele Zeichnungen, die in der einen aufgehoben sind.

Um sich in solche Prozesse hineinzubegeben, ist es hilfreich zu Beginn die Mittel festzulegen: das Papier, das Format, die Zeichenwerkzeuge, eventuell die Farben. Solche Einschränkungen öffnen die Möglichkeiten des Agierens und der Imagination.

T.H.: Lässt sich etwas zur Relation von Ahnung, Absicht, Einbildungskraft oder Vorstellung zu dem, was sich dann tatsächlich auf dem Papier ereignet, sagen?

N.M.: Es gibt Gedanken, bildlose Anfänge, die durch das Zeichnen sichtbar werden können, weil ich sehen kann, wobei das Sehen eine immerwährende Frage bleibt. Das Innen wird beim Zeichnen mit dem Aussen vermittelt und umgekehrt. Auf diese Weise finde bzw. stöbere ich in meinen Zeichnungen das auf, was angelegt, aber noch nicht sichtbar war. Die Prozesse, die aus der anfänglichen Unbestimmtheit Bestimmtheit, Sinn und Gestalt herausdestillieren, sind schwer in Worte zu fassen. Eine bereits fertige Idee nachzuzeichnen liegt mir nicht, ich wüsste nicht, warum ich das machen sollte. Wenn, dann geht das nur über Umwege, weil es sonst wenig Erkenntnisgewinn für mich gibt. Mich fasziniert es, durch Zeichnen das zu finden und herauszuarbeiten, was sich in der Ahnung anbahnt, was vielleicht schon da ist, aber noch nicht sichtbar. Dabei ist wesentlich, dass man es beim Zeichnen immer mit mindestens drei Realitäten zu tun hat, die ganz unterschiedlichen Bedingungen unterliegen: der Realität der sichtbaren Welt, der im Kopf und der auf dem Papier.

T.H.: Gibt es Strategien, die man auf diesem Weg entwickelt und forciert, die sich konkretisieren und die sich sprachlich benennen lassen? Was man findet oder was sich ereignet, lässt sich ja eigentlich per definitionem nicht antizipieren und vorwegnehmen. Ich denke an eine Überlegung von John Berger, der in seinem Buch über die Zeichnung den Moment des Findens einem «point of crisis» folgen lässt. [4] Die «Krisis der Zeichnung» ist der potenzielle Moment eines Umschlags, in dem sich Möglichkeiten eröffnen können, aber die Zeichnung ebenso misslingen kann. Die Fähigkeit, diesen «point of crisis» zugunsten von interessanten Findungen bewusst zu provozieren, würde die Kunst des Zeichnens bedeuten.

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