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N.M.: Interessante Findungen mit Absicht durch eine Krise zu provozieren, halte ich für problematisch, weil dies die Gefahr der Maniriertheit mit sich bringt.

Die Krise ist latent immer dabei. Das Zerstören der Zeichnung und Durchkreuzen eines eingeschlagenen Weges ist ein Risiko, das etwas Neues öffnen, aber auch endgültiges Scheitern bedeuten kann. Das Sich-Lösen von «den schönen Stellen», von dem, was man in der Zeichnung gerade als besonders gelungen empfindet, braucht Mut und kann die entscheidende Wende bringen. Aber es gibt keine Garantie. Den Möglichkeiten zeichnend Raum zu geben und die Zeichnung in ihrem Entstehungsprozess möglichst lange offen zu halten, ist oft entscheidend für das Gelingen und hat viel mit Erfahrung und Intuition zu tun. Von Paul Valéry stammt das Zitat: «Gelungenes entsteht durch Verwandlung aus Verfehltem. Verfehlt heisst demnach: zu früh aufhören.» Man sollte also nicht aufhören, wenn die Zeichnung die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllt. Fast jede Zeichnung ist ein Risiko. Fehler und Hässlichkeiten gehören dazu. Auch sollte man nicht gleich mit akademischen Kategorien oder eigenen Kriterien alles wegurteilen, bevor es die Möglichkeit hat, sich zu zeigen. Jeder und jede die zeichnet, kennt die Krisen und hat eigene Strategien für deren Bewältigung.

Für mich gibt es zwei Wege und eine Sackgasse: Der eine Weg besteht darin, in zuversichtlicher Bezweiflung weiter zu arbeiten, offen zu bleiben und sich für neue Möglichkeiten zu sensibilisieren. Ein anderer Weg ist das Liegenlassen und mit Abstand wieder aufnehmen. Die Sackgasse ist der verzweifelte Weg des «Zu-Tode-Rettens».

T.H.: Was passiert aber, wenn man eine Zeichnung überhaupt nicht mehr retten kann? Wenn so viel auf dem Blatt ist, dass sich gar keine Möglichkeiten mehr eröffnen werden.

N.M.: Dann muss man das erkennen und einsehen. Scheitern gehört dazu. Solche Blätter grundiere ich meistens, um das Zeichenpapier weiter zu verwenden. Entweder färbe ich es schwarz und mache dann Zeichnungen auf schwarzen Gründen. Häufig arbeite ich auch mit dem Durchschimmern von Misslungenem. Es sind Sichtbarkeiten, Linien und Spuren, die ich vielleicht noch nicht verstehe, und die ich dann zeichnend in ganz andere Zusammenhänge integriere. Zusammenhänge sind die Gewebe aus Form und Inhalt, die einander bedingen und nicht zu trennen sind. Zeichnen sind viele Tätigkeiten, sind komplexe Bewegungen, die eine Frage umkreisen, den Sinn aufspüren und ihn aufschimmern lassen. Das interessiert mich sowohl vom Zeichenprozess her als auch als Teil des Daseins oder des Lebens.

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