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Auch er hatte allerdings nicht vor, sich autopädagogisch zu einem ‹ganzen Menschen› zu bilden, vielmehr wollte er die Zeichenfläche in eine nicht-orientierbare Oberfläche von der Art des Möbiusbandes transformieren, auf der sich Unterscheidungen wie die zwischen rechts und links nur noch in einem lokalen Bezugsrahmen aufrecht erhalten lassen, während sie im globalen Zusammenhang der Raumschleife hinfällig werden. Zeichnung war für ihn nicht Arbeit auf einer, sondern vor allem auch an einer Oberfläche: der Versuch, die Zeichenoberfläche zeichnend zu transformieren. Wem es als Zeichner gelingt, eine Ebene oder Oberfläche herzustellen, auf der sich rechts in links und links in rechts verkehren lassen, der wird vielleicht auch, dachte Roth, in der Lage sein, andere asymmetrische Beziehungen wie etwa die von Vater und Sohn umzukehren, sodass der Vater zum Sohn seines Sohns wird und umgekehrt; er wird sich, anders gesagt, in die Lage gebracht haben, den Fluss der Zeit und die Reihe der Generationen umzukehren, letztlich vielleicht sogar Entropie in Negentropie zu verkehren.

Konsequenterweise sind unter dem Autorennamen «Dieter Roth» daher auch Zweihandzeichnungen zu finden, die insofern keine Beidhandzeichnungen sind, als die involvierten Hände zu unterschiedlichen Körpern (zum Beispiel Roth Vater und Sohn) gehörten. Entscheidend war in diesem Projekt also der Zusammenhang von Zeichnung und Zeit. Roth versuchte, durch Zeichnung aus der Zeit ein symmetrisches, auf sich selbst zurückfaltbares Gebilde zu machen. [23]

Aber wovon unterscheidet sich das beid- oder mehrhändige Zeichnen überhaupt? Sollte es jemals so etwas wie einhändiges Zeichnen gegeben haben? Betrachten wir, um bei dieser Frage etwas klarer zu sehen, eine bestimmte, uns vertraute Praxis des Zeichnens. Die Zeichnerin hat ein Blatt Papier und einen Zeichenstift zur Hand und macht sich bereit zum Zeichnen. [24] Papier und Stift allein reichen aber nicht aus, sie braucht noch eine Unterlage. Dazu dient ihr ihre Zeichenmappe. Sie setzt sich also auf einen Schemel, legt die Mappe auf die Beine, das Blatt auf die Mappe und beginnt zu zeichnen. Aber diese Haltung ist noch nicht günstig, sie muss noch etwas modifiziert werden – zumindest dann, wenn ein im selben Raum gegenwärtiges Modell gezeichnet werden soll. Der Blick-Weg vom Zeichenblatt zum Modell wird in diesem Fall möglichst kurz sein sollen; im Idealfall wird es nur einer Augen-, nicht auch einer Kopfbewegung bedürfen, um den Blick vom Zeichenblatt zum Modell und wieder zurück zu lenken. Die Mappe, auf der das Zeichenblatt liegt, muss also angehoben und in eine Schräge gebracht werden, die zum Modell hin aufsteigt, zum Körper der Zeichnerin hin abfällt. Es ist wichtig, diese Schräge in Erinnerung zu rufen, denn wir tendieren dazu, die Zeichnung auf Horizontalität festzulegen [25] – und vergessen, dass sich das Zeichenblatt beim Zeichnen in vielen Fällen in einer Schräglage befindet. Doch auf welche Weise bringt die Zeichnerin ihre Unterlage in die Schräge?

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