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Angesichts der skizzierten Zeichenszene sehen wir aber auch Anderes. Insbesondere ein Umstand tritt hervor, der immer noch so selbstverständlich ist, dass man ihn gerne übersieht: Zur Geschichte des Zeichnens gehört wesentlich auch die Geschichte von Zeichenblättern. Nennen wir es die ‹Blättrigkeit› der Zeichnung. Der grosse Vorteil von Zeichenblättern: dass sie so dünn und leicht und biegsam, folglich leicht zu transportieren, falten, lagern sind, dieser Vorteil geht mit der Schwierigkeit einher, dass Zeichenblätter für sich genommen kaum fest genug sind, um Zeichnungen oder Abdrücke aufzunehmen. Sie sind wohl in der Lage, einmal aufgenommene Markierungen zu tragen, doch bedürfen sie zur Aufnahme der Markierungen einer Unterstützung. Um bezeichnet oder bedruckt zu werden, müssen sie sich sozusagen einen anderen Körper borgen – etwa in Form einer Zeichenmappe oder eines Tisches. Man kann es auch umgekehrt betrachten: Das Zeichenblatt ist die ablösbare Oberfläche eines bezeichneten oder bedruckten Körpers, jedes bezeichnete oder bedruckte Blatt ist eine Art abgezogener Haut. [28]

Die intime Relation von Haut und Blatt, in die sich die Hand gleichsam einzeichnet, findet in anatomischen Studien ihren wohl markantesten, und im wörtlichen Sinne zugleich tiefgreifendsten Ausdruck. Es ist in diesem Fall nicht nur ein Zeichnen der Haut/auf der Haut, sondern zwangsläufig ein Abziehen der Haut und ein Sezieren des Körpers, wobei das Blatt gleichsam ‹zweiblättrig› [29] ist: sowohl abgezogene Haut wie auch Ort des Abziehens und Enthüllens. Durch das Zusammenspiel von erkundendem Auge, zeichnender Hand und sezierendem Stift werden auf dem Blatt, das gewissermassen zur imaginären Schnittstelle wird, die unsichtbaren und opaken Tiefen des Körpers freigelegt. Es ist nur eine Vermutung, dass diesem komplexen Szenario in anatomischen Zeichnungen der Hand, wie wir sie etwa bei Leonardo da Vinci, beziehungsweise in Darstellungen von Hände sezierenden Anatomen finden, noch eine weitere, metadiskursive Dimension hinzugefügt wird: die Hand – also das ausführende Organ der Präparierung und Beschreibung – wird enthäutet, zergliedert und im selben Augenblick durch den Akt der zeichnenden Hand wieder zu einem Ganzen zusammengefügt: die Hand als Symbol des schöpferischen Menschen schlechthin seziert sich, zeichnet sich, kreiert sich. [30]

Doch kehren wir noch einmal zu den Zeichenblättern und dem von ihnen oder für sie geborgten Körper zurück. Wichtig ist in jedem Fall, dass sich das Zeichenblatt beim Zeichnen (oder Drucken) vorübergehend mit einem anderen Körper verbinden muss, der ihm die nötige Festigkeit verleiht. Daraus folgt, dass sich in jeder Markierung auf einem Zeichenblatt gewöhnlich das Widerlager der Unterlage abdrückt – ein im Moment der Betrachtung meist nicht mehr gegenwärtiges Widerlager.

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