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Wenn es etwa darum ging, das Turiner Grabtuch abzulichten, schien sich in dessen Wiedergabe das Reproduktionsmedium selber zu spiegeln: als eine nicht von Menschenhand, sondern allein vom Licht gezeichnete Graphie. [4] Druckgraphiken werden von Handzeichnungen aber nicht nur deshalb unterschieden, weil in einem bestimmten, entscheidenden Moment ihrer Herstellung keine Hand an dem Ort ist, wo das Bild entsteht. Vielmehr fällt es schwer, sie überhaupt als Zeichnungen anzusehen. Zwischen Zeichnung und Abdruck scheint ein so grundlegender Unterschied zu bestehen, dass der Abdruck einer Zeichnung – als einen solchen kann man viele Druckgraphiken ja betrachten – streng genommen gar keine Zeichnung mehr ist. Worin aber besteht dieser grundlegende Unterschied zwischen Abdruck und Zeichnung?

Wir brauchen diese Frage hier nicht im Einzelnen zu erörtern; sie kommt für uns nur insofern in Betracht, als sich daraus Hinweise gewinnen lassen, wie das Verhältnis von Hand und Zeichnung zu denken sei. Begnügen wir uns also mit der Feststellung, dass Schleifspuren dem, was wir Zeichnung nennen, grundsätzlich näher stehen als Abdrücke. Beim Zeichnen kommt es nicht, wie beim Abdruck, zu einer simultanen Berührung zweier Oberflächen, es wird auch nicht, wie beim Rollsiegel, eine Oberfläche auf eine andere abgewickelt, sondern es bewegt sich etwas über die Oberfläche, lässt sich stellenweise auf ihr nieder, dringt vielleicht sogar ein Stück weit in sie ein und zieht (unvorhersehbare) Bahnen, so dass sich Punkte, Flecken oder Löcher zu Linien, Streifen oder Rillen dehnen. Wohl gibt es beim Zeichnen ein Drücken oder Aufdrücken, aber dieses Drücken verbindet sich mit einem Ziehen, Schleifen oder Reissen. Schon die suchenden Luftlinien der zeichnenden Hand sind auf den Kontakt mit der zu bezeichnenden Oberfläche hin gespannt. Entfalten jedoch kann sich die zeichnerische Linie erst durch die tatsächliche taktile Berührung des Blattes und im Zusammenwirken von vertikaler und horizontaler Bewegung auf dem Bildträger; wie Alexander Perrig schreibt, ist «die Art und Weise dieses Zusammenwirkens der Ursprung sämtlicher Strichformen.» [5]

Die Markierungen entstehen folglich nicht simultan (wie beim Abdruck), sie haben eher den Charakter von Bewegungsspuren. Wenn die Hand selber das Zeicheninstrument sein soll, lassen sich solche Bewegungsspuren wohl am leichtesten mit Hilfe von Fingern erzeugen. Die Finger (die wir mitunter sogar als ‹spitz› bezeichnen – spitz wie eine Feder oder ein Stift) lassen sich offenbar als rudimentäre Zeichenstifte gebrauchen und betrachten. Die Handzeichnung ist von daher vielleicht in erster Linie Fingerzeichnung. Anders als die musikalische Praxis hat die Bildgeschichte allerdings keine Fingersätze hervorgebracht, weshalb die Technik der Fingerzeichnung doch über die – sich zum Spiel der Finger entfaltende – Hand symbolisiert wurde.

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