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Oder sollte die Hand tatsächlich nicht nur zeigen, zeichnen und greifen, sondern auch be-greifen und also denken können? Gewiss ist, dass man sich in den Disegno-Theorien der Frühen Neuzeit vielfach darum bemüht hat, die Hand dem Geist anzunähern. Im Rückgriff auf Aristoteles und Albertus Magnus, der die Hand das «Organ des Intellekts» nannte, [8] wurde die Künstlerhand zu einer urteilssicheren, gleichsam denkenden Hand stilisiert, die die geistigen Konzepte klar auszudrücken vermag. Zugleich wusste man aber spätestens seit Leonardo um die Relevanz der Geste und des Aktes, und darum, wie stark die äussere Bewegung der Hand die innere Bewegung des Geistes führen, also die zeichnerische Hand(lung) den geistigen Prozess beeinflussen kann. Hebt die sich an der Schwelle zwischen Entäusserung und Verinnerlichung bewegende Hand des Zeichners somit stets schon mehrere Erscheinungsformen der Entzweiung auf? Entzweiungen von unabsehbarem philosophischen Gewicht wie diejenige zwischen Innen und Aussen, Körper und Geist, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit?

In ihrem letzten, grossangelegten Werk über das Leben des Geistes schreibt Hannah Arendt, dass jegliche Form des Machens stets mit der Sichtbarkeit verwoben sei. Im Gegensatz dazu spiele sich das Denken im Verborgenen ab, und bleibe nicht nur in der Potenz, sondern selbst im Zustand der Aktualisierung unsichtbar, was sie dazu veranlasst, die Philosophen die Unsichtbaren zu nennen. [9] Spinnt man das Gedankenexperiment weiter, ist es nicht allzu abwegig den Künstler im Allgemeinen und den Zeichner im Spezifischen als einen ‹Sichtbar-Machenden› zu charakterisieren. Diese Sichtbarmachung entsteht weniger durch eine scharf abgrenzende Linie, als vielmehr durch den wiederholt ansetzenden Strich, der sowohl für labile räumliche Trennungen, als auch für verschiedene Aspekte der Zeitlichkeit sensibilisiert. [10]

Das wiederholte Ansetzen, das Nachtasten, die Überlagerungen, sie alle sind Anzeichen eines Striches im Akt des Werdens, eines Striches, der die Form gerade durch die kontinuierliche Arbeit der Hände erst entstehen lässt im Sinne eines modus operandi, den Leonardo in seinen Skizzen zur Evidenz bringt. [11] Er, der sich in seinen Studien immer wieder mit dem Sein des Nicht-Seins beschäftigte und den unvollendeten, da nicht vollendbaren Charakter des Denkens, Schreibens und Zeichnens nicht negierte, sondern visualisierte, führt uns die von Alain Badiou so genannte Fragilität der Zeichnung, ihr Oszillieren zwischen Sein und Nicht-Sein eindringlich vor Augen. [12] Im Gegensatz zum unsichtbaren Ort des Denkens und zur raumlosen, weder der Hand noch dem Auge zugänglichen Finsternis des druckgraphischen Prozesses könnte man den (Entstehungs-)Ort der Zeichnung sowohl als einen des (blinden) Ertastens als auch als einen der Sichtbarmachung umschreiben, ein Ort, an dem etwas folglich (auch materiell) greifbar und in gewissem Sinne begreifbar wird.

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