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Nicht zuletzt ist mit dem Be-Greifen und Be-Zeichnen die Frage nach der Relation von Hand und Sprache, oder umgekehrt betrachtet nach derjenigen von Zeichnung und Mund verbunden. Antonin Artaud etwa hat diese (Sinn)Verknüpfung obsessiv beschäftigt: das Zeichnen mit dem Mund ist ein Zeichnen, in dem jedes Zeichen sowohl von der Hand, als auch vom Atem gezogen zu werden scheint. Mit dem Mund zu zeichnen bedeutet also, eine Stimme vor dem definierenden Wort zu geben, eine Stimme, die als Ganzes gesehen wird. [13]

Diese Stimme oder Sprache der Hand thematisiert der französische Paläontologe André Leroi-Gourhan in Hand und Wort, seinem in den 1960er Jahren erschienenen philosophischen Hauptwerk. In diesem betritt am Ursprung der Bilder ein homo erectus die Szene, dessen Hand, womöglich mit frühen Zeichenwerkzeugen, die Höhlenwand berührt und überrascht vor einem abstrakten Bild zurücktritt. Zum homo pictor wird dieser homo erectus über die Geste der Hand, die sich über den technischen Zugriff im Bild und der «Bildersprache» exteriorisiert. «Die Hand», so Leroi-Gourhan, «wurde so zur Schöpferin von Bildern, von Symbolen, die nicht unmittelbar vom Fluss der gesprochenen Sprache anhängen, sondern eine echte Parallele dazu darstellen (...) Die Hand hat ihre Sprache.» [14]

Überhaupt ist die Hand ja ein zentrales Thema der verschiedensten Anthropologien und Ontologien, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage nach dem Unterschied von Mensch und Tier. Bekannt ist die Passage aus De partibus animalium, in der Aristoteles die Vorzüge der menschlichen Hand preist: die Hand, das «Werkzeug aller Werkzeug», vereint das Viele im Einen. [15] Von der Antike über das Mittelalter und die Neuzeit, man denke etwa an Marsilio Ficino oder Giordano Bruno, führen vielzählige philosophische Spuren zur Hand und Händigkeit – bis hin zu Jacques Derrida, der, Martin Heidegger über die Schulter blickend, zu der Einsicht gelangte: «Jedes Mal, wenn nach der Hand und nach dem Tier gefragt wird (...) scheint eine Schwierigkeit verdeckt». [16] Nicht auszuschliessen ist, dass diese Schwierigkeiten einmal ein neues Verständnis von Geschichte und Gegenwart der Zeichnung erforderlich machen werden.

Bewegen wir uns allzu sprunghaft oder ruckartig vorwärts? Sechshändig schreibend, sind wir der Händigkeit der Zeichnung auf der Spur. Wir sind ungeduldig und kommen einander gelegentlich in die Quere. Die Signaturen überlagern und überkreuzen sich. Die singuläre Autorschaft ist vervielfältigt oder verwischt. Angesichts der Art und Weise unseres Schreibens konnte uns allerdings nicht entgehen, dass die Händigkeit der Zeichnung nicht mit dem Begriff der Handzeichnung gleichgesetzt werden kann und dass in der Händigkeit noch Anderes steckt als jene Eigenhändigkeit, die in kunsthistorischen Zuschreibungsfragen eine so grosse Rolle spielt.

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