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Die Linie in einem bildtheoretischen Glossar anzuführen, ist keinesfalls selbstverständlich. Es gibt zum einen Linien, die wie Spuren im Sand nicht ohne weiteres Teil eines Bildes sind. Zum anderen bestehen nicht alle Bilder wie Kinderzeichnungen fast ausschließlich aus Linien: Schraffuren und Schattierungen bereichern die Möglichkeiten des Zeichners; Fotografien und Pixelgrafiken setzen sich aus Körnern oder Bildpunkten statt aus Linien zusammen; nicht zuletzt die Malerei war Anlass für eine ausgreifende Diskussion über die Wichtigkeit von Farbe oder Umrisslinien. Nichtsdestotrotz können natürlich alle Bilder durch Farb- und Lichtflecken Linien darstellen. Es gilt deshalb zu unterscheiden zwischen Linien, die wir sehen, und Linien, die wir ziehen. Die Notwendigkeit, Linien zugleich als gezogene und gesehene zu thematisieren, verweist auf zwei untrennbare, aber analytisch zu unterscheidende Aspekte von Bildern: Für ihren Sinn ist sowohl ihre Betrachtung als auch ihre Herstellung von zentraler Bedeutung. [1]

Appelles’ und Protogenes’ nahezu unsichtbare Linien

Die analytische Unterscheidung von gezogenen und gesehenen Linien möchte ich zunächst anhand einer antiken Anekdote diskutieren, auf die James Elkins jüngst die bildtheoretische Aufmerksamkeit gelenkt hat. [2] Plinius berichtet im Buch 35 seiner Historia Naturalis von einem Malerwettstreit: Appelles reist nach Rhodos, um seinen berühmten Zeitgenossen Protogenes kennenzulernen, trifft in dessen Haus neben einer vorbereiteten großen Tafel (tabulam aplae magnitudines) aber lediglich eine alte Frau an, die anbietet, dem abwesenden Hausherrn eine Nachricht zu übermitteln. Appelles greift zu einem Pinsel, malt auf der bereitstehenden Tafel eine sehr dünne, farbige Linie (lineam ex colore duxit summae tenuitatis per tabulam) und lässt ausrichten, diese sei von ihm (ab hoc). Als Protogenes nach Hause kommt, erkennt er bei genauerer Inspektion der Tafel die meisterliche Hand Appelles’. Er greift seinerseits zum Pinsel und malt eine noch feinere Linie von anderer Farbe in die erste Linie hinein (ipsumque alio colore tenuiorem lineam in ipsa illa duxisse). Die Bedienstete bekommt dieses Mal den Auftrag, das Ganze Appelles zu zeigen, sollte dieser in seiner Abwesenheit wiederkommen, und hinzuzufügen, dies sei, was er suche (hunc esse, quem quaereret). Als Appelles erneut Protogenes’ Haus besucht, sieht er das Bild mit Erstaunen und teilt die Linien mit einer weiteren Linie von einer dritten Farbe (tertio colore lineas secuit). Schließlich kehrt Protogenes wiederum heim, erkennt seine Niederlage an und sucht Appelles auf, um sie ihm einzugestehen.

Ausgabe 03 | Seite 174  >>