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Plinius’ Geschichte hat Künstler, Ästhetiker und Philologen seit ihrer Niederschrift fasziniert und wäre in vielerlei Hinsichten zu diskutieren. [3] An dieser Stelle soll sie lediglich zum Anlass für eine bildtheoretische Erwägung zum komplexen Charakter von Linien im Bild genommen werden. Was wir dem Bericht entnehmen, ist zuallererst die schrittweise Entstehung eines Bildes: Eine Linie nach der anderen wird gemalt, drei Mal hinterlässt ein Pinsel eine Spur von Pigmenten. Die gezogene Linie verknüpft sich so mit der Vorstellung eines zeitlichen Prozesses, der sich Stück für Stück in materiellen Spuren niederschlägt, wobei wir in der Linie von Künstlers Hand anders als in der geometrischen Konstruktion eine ausdrucksvolle Bewegung zu sehen erwarten. Während Plinius die Entstehung des Bildes also schrittweise schildert, lässt er recht offen, was wir schließlich sehen würden, wenn wir auf das Bild blicken könnten. Diese Frage bildete daher ein Zentrum der faszinierenden Rezeptionsgeschichte und bot Raum für vielfältige Rückprojektionen der eigenen ästhetischen Vorstellungen. [4] Mit Blick auf das bildtheoretische Stichwort der Linie möchte ich mich im Folgenden – in Anlehnung an die Diskussion bei James Elkins – zunächst auf die scheinbar einfache Frage beschränken: Wie viele Linien würden wir wohl auf dem Bild sehen? [5]

Nehmen wir einmal an, die Maler hätten ihre dünnen Linien kurzer Hand neben einander auf die Leinwand gesetzt, dann wäre die Antwort wohl eindeutig: Wir sähen drei Spuren des Pinsels und zugleich drei Linien. Plinius’ Bericht von diesem Wettstreit unterstützt diese Annahme aber keineswegs. Denn die Maler haben sich zu überbieten versucht, indem sie die neuen Linien in die bisherigen hinein malten. Sie unterteilten so mit der feineren Linie den alten Linienzug und wählten daher auch jeweils eine neue Farbe. Mit der zweiten Linie entstehen so drei Farbbänder, nach der dritten fünf. Jedes dieser Farbbänder können wir wiederum als eine Linie betrachten, so dass wir also schließlich fünf Linien sehen würden. Die numerische Identität zwischen den aufeinander folgenden Spuren der Malakte und der im Bild sichtbaren Linien ist nicht mehr gegeben, und die Bildbetrachtung löst sich von der Ordnung der Bildentstehung: Sie sieht fünf Linien unabhängig von der Tatsache, dass der Pinsel nur drei Mal seine Spur auf der Leinwand hinterlassen hat. Was wir schließlich sehen können, entsteht mit und im Bild und ist keineswegs auf die Schritte der Herstellung zurückzuführen.

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