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Im Übergang von der Entstehung des Bildes in die Ordnung des Sehens tritt somit anderes in den Blick: Zunächst haben wir es mit Akten der Herstellung zu tun, sodann mit ihren materiellen Spuren und schließlich mit ihrem Sinn. Bei einigen wenigen Pinselstrichen fallen das Ziehen der Linie, der Linienzug auf der Tafel und die gesehene Linie noch scheinbar zusammen. Dennoch und umso mehr sind die Materialität der Darstellung und die Idealisierung des Dargestellten zu unterscheiden, um das dynamische Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte und damit die spezifische Charakteristik bildlicher Darstellungen herauszuarbeiten. Unter ‹Idealisierung› möchte ich dabei die Subsumtion der Darstellung unter ihren Sinn und insbesondere ihre Identifikation mit dem Dargestellten verstanden wissen: Ich sehe also eine Linie ohne Breite und nicht die Pigmente in der Fläche, die jene materialisieren und die der Betrachter realisiert. Eine solche Idealisierung muss nicht das Ziel der Betrachtung sein, sie bezeichnet aber sehr wohl ein irreduzibles Moment, weil es sich bei Bildern um Dinge handelt, die hergestellt wurden, um etwas zu bedeuten oder darzustellen. [6] Deshalb steht dieser Aspekt der Idealisierung aber auch in einem dynamischen und spannungsvollen Wechselspiel mit der Materialität des Bildes: Wir sehen nicht entweder ein Ding oder den dargestellten Sinn – wir sehen beide zugleich in einem Prozess, der sowohl den einen wie den anderen Aspekt der Darstellung hervortreten lassen kann.

Das komplexe Wechselverhältnis dieser beiden Aspekte kann mit Plinius’ Bericht vom antiken Malerwettstreit weiter ausgelotet werden. Nehmen wir naheliegender Weise an, die Maler hätten ihre Linien mittig aufeinander gesetzt und die vorhergehende Linie daher durch eine feinere geteilt. Aus der Sicht der Bildbetrachtung changieren hier Fläche und Linie: Die erste Linie kann von Beginn an als eine Fläche betrachtet werden, da sie in einer länglichen Ausdehnung des Pigments realisiert ist und daher niemals wie eine mathematisch idealisierte Gerade ohne Breite auskommt. Sobald sie durch die zweite, feinere Linie übertroffen wird, wird sie notwendig zur Fläche, da sie nur in dieser Gestalt geteilt werden kann. Im Moment ihrer Teilung wird das Changieren der Linie als dargestellter Linie und der ausgedehnten Farbfläche im Bild offenbar. Sie kann in ihrer Materialität charakterisiert werden, zugleich hat sie aber Sinn und stellt etwas dar. Das idealisierende Moment beschränkt sich dabei insofern nicht auf die Darstellung der Linie, als auch der Bezug auf den Malakt das Farbpigment übersteigt und auf einen vorgeblich einfachen Akt der Herstellung zurückführt. Der Bezug auf die Herstellung kann so auch ein Moment der Idealität in der Betrachtung des Bildes sein.

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