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Am Teilen einer Linie durch eine Linie wird aber nicht nur das Wechselspiel zwischen Fläche und Linie deutlich. Die zweite, teilende Linie zeigt eine weitere Möglichkeit des Bedeutens von Linien in Bildern. Denn sie fungiert zunächst als eine Grenze zwischen zwei Flächen und ist als solche nicht selbst Gegenstand des Blicks. Statt selbst als Fläche wahrgenommen zu werden, lässt sie sichtbar werden, was sie unterscheidet. Eine einzige Linie schafft daher im Bild eine Konfiguration von Flächen und verleiht ihnen einen spezifischen Sinn: Sie lässt oben und unten, links und rechts sehen, wobei die prinzipielle Orientierung der Bildfläche im Bezug zum Betrachter eine entscheidende Rolle spielt. Linie und Fläche gehen auch hier wiederum eine sehr komplexe Verbindung ein, es geht nun aber nicht mehr um die Flächigkeit der Linie, sondern um die Bedeutsamkeit der Flächen, die durch Linien unterteilt werden. Die Linie selbst erscheint weder in ihrer Flächigkeit, noch wird sie als solche wahrgenommen. Sie fungiert als Grenze und kann zur Umrisslinie werden, die einer Figur sichtbare Gestalt verleiht.

Die Linie bewegt sich im Zusammenspiel mit der Fläche folglich zwischen der Materialität und Idealität des bildlichen Sinns. Sie geht zugleich mit einer Transformation der Zeit im Übergang von der Herstellung des Bildes zur Betrachtung einher, die im folgenden Abschnitt behandelt werden soll. Den grundlegenden Gedanken kann man wiederum anhand von Plinius’ Anekdote benennen. Denn sein Bericht lässt ein Bild Schritt für Schritt entstehen, mit den drei Zügen eines Wettstreits und in den drei Spuren eines Pinsels. Das Bild, das schließlich entstanden war, hat dagegen eine andere Zeit. Damit ist nicht allein die Zeit des Artefakts gemeint, das Plinius zufolge in Caesars Kunstsammlung aufbewahrt wurde und mit dieser verbrannt sein soll. Das Bild versammelt zuallererst die Spuren der schrittweisen Entstehung in einer Konfiguration, die von da an simultan zu erblicken ist. Wenn wir an der Stelle von drei Spuren eines Pinsels vielleicht fünf Linien sehen, dann ist dies nur deshalb möglich, weil diese Spuren sich auf der Leinwand versammelt haben und sich dort überlagern. Was hier zu betrachten ist, entsteht mit dem Bild und ist im Bild gegeben. [7] Nach der Auskunft Plinius war zwar nicht viel mehr zu sehen als eine große Fläche, die nichts anderes enthielt als kaum sichtbare Linien (spatiose nihil aliud continentem quam lineas visum effugientes). Aber auch diese fast leere Fläche muss erst einmal gesehen werden, indem die simultan gegebenen Linienzüge aktualisiert werden und sie sich dabei mit der Zeit des Sehens verschränken.

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