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Die Zeit der Linie nach Kant

Wie sich wiederum an der Linie zeigen wird, wäre es bildtheoretisch voreilig, den Sinn mit der Simultaneität des Bildes zu identifizieren. Denn im selbst unbewegten Bild ist zwar alles der Möglichkeit nach zugleich zu sehen, es muss aber sehr wohl noch gesehen werden. Anders gesagt muss die Simultaneität des Bildes in einem Prozess des Sehens realisiert werden, der selbst wesentlich zeitlich ist. [8] Kants Philosophie erweist sich hier deshalb als anschlussfähig, weil sie am Beispiel der Linie eine komplexe Verschränkung des sich vollziehenden Sehens mit der zu sehenden Gestalt konzipiert. Die Linie dient ihr daher zuallererst als Illustration für die generelle Annahme, dass die Gegenstände unserer Erfahrung nur durch synthetische Leistungen zustande kommen, die als eine Funktion der Einheitsbildung zu begreifen sind. Demnach wird die Einheit des Gegenstands der Vorstellung auf der Grundlage der «transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins» [9] durch die Einheit der Handlung der Synthesis hervorgebracht: «Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird.» [10]

<<  Ausgabe 03 | Seite 178  >>