>>
[11]

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 9), A 140–142/B 179–181.

[12]

Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 9), A 102.

 

Das Ergebnis bezeichnet Kant vor allem im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft als ‹Bild›, womit also die synthetisierte, gegenständliche Anschauung gemeint ist. [11] Es handelt sich somit um eine Vorstellung und keine in der Welt allgemein sichtbare bildliche Darstellung. Kant spricht aber wohl deshalb von ‹Bild›, weil es ihm um den simultanen Anblick eines erscheinenden Gegenstands zu tun ist. Dieser Anblick setzt seiner Annahme zufolge wie das Sehen von Bildern eine Synthese voraus, die selbst zeitlich ist. Für die Bildtheorie ist aber vor allem von Interesse, dass Kants Beispiel der Linie es erlaubt, die Zeit des Sehens mit der Zeit des Bildes zusammenzubringen und ihre Aufhebung im Anblick der Idealität des Dargestellten zu problematisieren.

Die Linie dient Kant, wie wir bereits gesehen haben, zunächst als beliebiges Beispiel für die Grundannahme seiner Philosophie, dass sich die Einheit jedes vorgestellten Gegenstandes der synthetisierenden Handlung verdankt. Dass Kant gerade die Linie zum Beispiel nimmt, ist aber offenbar dadurch motiviert, dass sie sich als Sinnbild für den zeitlichen Vollzug einer Synthese eignet, die jeder gegenständlichen Erfahrung zugrunde liegt. Am Beispiel der Linie betrachtet Kant daher auch die genauere Struktur einer solchen Synthese und die Zeitlichkeit ihres Vollzugs: Wie eine Linie nur entstehen kann, indem wir sie immer weiter verlängern und zugleich die bereits durchmessene Strecke aufgezeichnet wird, besteht die Synthesis (Apprehension) einer beliebigen Figur zugleich in der Fortsetzung der Synthese und der Bewahrung des bereits Synthetisierten (Reproduktion):

«Nun ist offenbar, daß, wenn ich eine Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum andern denken, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der andern in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden Teile der Zeit, oder die nach einander vorgestellten Einheiten) immer aus Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die reineste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können.» [12]

Dieses notwendige Zusammenspiel von Apprehension und Reproduktion und damit die Zeit der Synthesis jeder sinnlichen Erfahrung stellt Kant somit am Beispiel der Linie dar, weil diese im Zuge ihres Entstehens die offene fortschreitende Entstehung mit der Bewahrung des bereits Entstandenen verbindet.

<<  Ausgabe 03 | Seite 179  >>