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Das Zusammenspiel von Fortschritt und Bewahrung in der Synthese des Gegebenen zum Gegenstand kann unter Umständen die Vorstellung eines zwangsläufigen und mechanisch ablaufenden Prozesses evozieren. Jedoch hängt dieser Eindruck wesentlich vom gewählten Beispiel der Linie ab, worin ein erstes Indiz dafür zu sehen ist, dass das Sehen, sein Vollzug und seine Konzeption nicht unabhängig sind von dem, was es sehen soll. Dieser Gedanke bekräftigt sich in der Theorie des Erhabenen aus der Kritik der Urteilskraft, die solche Erscheinungen ins Auge fasst, an der die Synthese scheitert: Bei allzu großen Erscheinungen gelingt es nicht, durch die Reproduktion zu bewahren, was bereits synthetisiert wurde, so dass keine einheitliche sichtbare Gestalt resultiert. [13] Anders gesagt löscht sich die Linie, während wir sie ziehen, an ihrem anderen Ende wieder selbst aus, so dass die Zeit dieser Synthese niemals in der Gestalt einer Linie aufgehoben werden kann. Dieses Scheitern hat nun keineswegs nur einen negativen Sinn: Kant hat es als Möglichkeit gesehen, die Wahrnehmung auf eine Erfahrung dessen zu öffnen, was sich nicht als eine sichtbare Gestalt darstellen lässt. Diese Theorie des Erhabenen hat in der Kunsttheorie der 1980er und 1990er Jahre einiges Aufsehen erregt, erweist sich aber als ein zu großer Sprung für eine Bildtheorie, die sich Bildern im Allgemeinen widmet und daher an kleinteiligeren Beschreibungen interessiert sein muss. [14]

Die Konzeption der Erhabenheit legt zunächst einmal den Gedanken nah, dass das Sehen in seiner synthetischen Bemühung zwar prinzipiell auf die Einheit des Gegenstandes bezogen sein kann, es aber mitnichten gewährleistet ist, dass diese Synthese wie im Beispiel einer Linie von übersichtlicher Länge auch erreicht wird. Bildtheoretisch lässt sich dieser Gedanke auf die Bestimmung der simultanen Gegebenheit des Bildes beziehen, die das Ziel, aber nicht das Ende einer Bildbetrachtung beschreiben kann. Wir betrachten demnach nacheinander die Elemente des Bildes, sehen sie in bestimmten Konfigurationen und beziehen sie zugleich auf seine Ganzheit. Dieser Bezug auf die simultane Ganzheit des Bildes muss aber keineswegs die Vollendung des Sehens im synchronen Anblick des Bildes und in seinem eindeutigen Sinn bedeuten. Vielmehr erlaubt es gerade der Bezug auf das ganze Bild, jedes Bildelement immer wieder neu in Bezug zu setzen und in anderen sinnvollen Konfigurationen zu sehen. Die Simultaneität des Bildes bezeichnet so nicht primär seine synthetische Zusammenfassung in der Idealität eines erblickten Gegenstandes, sondern eine Ressource des zeitlichen Prozesses der Bildwahrnehmung und der Entfaltung eines vielfältigen Sinns der Bildelemente. [15]

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