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Protogenes’ und Appelles’ Linien bieten dafür – in der Form des Gedankenexperiments – ein gutes Beispiel. Dass ihre Linien kaum sichtbar waren oder der Sichtbarkeit entflohen, verweist möglicherweise nicht nur darauf, dass sie so dünn waren. Sie geben auch die Flächen zu sehen, die sie unterteilen, oder gar die leere Fläche, aus der sie kaum herauszutreten vermögen. Ob ich eine Linie sehe oder die von ihr unterteilten Flächen, hängt aber wesentlich davon ab, ob ich die Fläche als Ganzes wahrnehme und ihre Unterteilung bemerke oder die Einheit der Linie als Ganzes annehme und die umgebenden Flächen an den Rand treten lasse.

Diese beiden Möglichkeiten sind in der Simultaneität des Bildes gegeben. Sie lassen sich aber nicht in einem idealisierten Sinn des Bildes zusammenführen, weil die Linien in der jeweils gewählten Konfiguration einen eigenen Sinn haben. Das Bild stellt so keine harmonische Einheit aller möglichen Konfigurationen dar und resümiert sich nicht in einer einzigen Bedeutung. Es ermöglicht simultan die Wahl heterogener Konfigurationen, in denen Bildelemente immer wieder neuen Sinn gewinnen.

Das Beispiel der Linie führt aber über diese bildtheoretische Adaptation von Kants Theorie der Synthese noch ein Stück hinaus. Denn vor dem Hintergrund von Kants Theorie des Erhabenen und seiner Analyse der Zeit anhand der Linie lässt sich die Vermutung wagen, dass die Zeitlichkeit der Synthese und des Sehens keineswegs unabhängig sind von dem, was gegeben ist und betrachtet wird. Dieser Gedanke wird durch eine weitere Ebene von Kants Argumentation am Beispiel der Linie unterstützt. Denn Kant vertritt die These, dass wir uns die Zeit nicht unmittelbar vorstellen können, sondern nur gestützt auf «die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit», nämlich einer «geraden Linie». [16] Wenn wir uns die Zeit aber nur «unter dem Bilde einer Linie, so fern wir sie ziehen» [17] , vorstellen können, dann ist sie offenbar nicht unabhängig von dieser Darstellung und der spezifischen Figur der Linie. Für Kant geht es dabei zuallererst darum, wie die Zeit Gegenstand unserer Vorstellung werden kann. Dennoch legt er damit durchaus den Gedanken nah, dass die Zeit der Synthese selbst abhängig ist von der Erscheinung, die synthetisiert werden soll. Die Zeit der Synthese würde demnach strukturiert werden durch die in der Anschauung gegebenen Konfigurationen. Sie formt sich nach den Strukturen dessen, was sie gerade zusammenzuführen versucht. Hätten Appelles und Protogenes ihre drei dünner werdenden Linien nebeneinander und nicht ineinander gesetzt, so wäre wohl auch keine Linie, sondern der visuelle Rhythmus der Bildfläche hervorgetreten.

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