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Neben die Linie treten so nicht nur möglicherweise andere Darstellungen der Zeit, sondern eben auch andere Formungen der Zeit der Erfahrung selbst. So sehr das Ziehen der Linie in seiner historischen Semantik unserem gewohnten Verständnis von Zeit entgegenkommt, so sehr eröffnet dieses Beispiel Kants den Blick auf eine andere Erfahrung der Zeitlichkeit in Abhängigkeit von den Konfigurationen, die wir in Bildern sehen können.

Die Linie ist folglich ein Bildelement, das die Möglichkeiten von Bildern in mancherlei Hinsicht selbst durchzieht. Sie kann an der Herstellung wie an der Bedeutung von Bildern teilhaben und verknüpft diese beiden Aspekte der bildlichen Darstellung. Sie nimmt als materielle Spur eine Fläche ein, aus der sie als dargestellte Linie hervortreten kann. Zugleich kann sie als Grenze fungieren, Flächen unterteilen oder Figuren umreissen und ihnen so Sinn verleihen. Wie Bilder aus der Fläche Sinn schöpfen, zeigt sich so nicht zuletzt an der Linie. Sie eignet sich aber darüber hinaus, um die Verknüpfung des simultan gegebenen Bildes mit der Aktualisierung des Bildsinns im Prozess des Sehens zu reflektieren. Schließlich ist die Linie in der philosophischen Tradition nicht nur eng mit der linearen Darstellung der Zeit verbunden. Sie evoziert auch die Zeit, die wir brauchen, um ein Bild zu sehen und aus seiner simultanen Gegebenheit Sinn zu realisieren. Die Linie verknüpft so die Genese von Sinn in der Fläche mit seiner Realisierung in der Zeit – und muss daher wohl doch als eine besondere Reflexionsfigur der Bildtheorie gelten.

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