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Im Inneren des Raben definieren die Protagonisten einer Ästhetik der schwarzen Welt durch ihren Blickverkehr die semantischen Pfade, deren Rekonstruktion erst die äussere Zeige-Sprech-Szene dieses Bildes ist. Aber zugleich wachsen sie über den Innenraum des Aasfressers hinaus in den Raum des Bildes, ihre Körperkonturen sind als blosse Skizze gespenstisch angedeutet. Sie befinden sich so im Tiefengrund des Bildes, zugleich geisterhaft im Vordergrund des angedeuteten Raums und seltsamerweise noch einmal vorne, da der Rabe auch im Vordergrund des Bildes gedacht werden könnte.

Schlotter, der dieses Bild gibt – es der Sichtbarkeit gibt/schenkt –, blickt also aus dem schwarzen Grund heraus auf die Blicke der beiden Dichter (Sehen als deiktischer Akt). Die beiden Autoren blicken gegen die Schreibrichtung, leicht konvergent zum Schnabel, auf den Ort der Produktion der Schrift, den Ort, an dem die Tinte das weisse Papier schwärzt (Sprache). Genauer aber gibt Schlotter zu verstehen, dass er Raabe aus der Semantik von Schmidt liest oder besser: sieht, und also entsprechend ins Bild stellt (Sprechen: Raabe spricht als Maske Arno Schmidts). Diese Blicke definieren in ihrem Überkreuz Intentionen, die zu entziffern sind, um diesen Raben als das sehen zu können, was er jenseits einer dem Material entstehenden Gestalt ist. Die Radierung also formiert: Sehen/Blicken, Schreiben/Sprechen, Intentionalitäten – sie setzt die Zeige-Sprech-Szene, jene Aussenbedingung des Bildes, die in seinem inneren Gehalt wiederkehren kann, in Szene. Was also ist die Zeige-Sprech-Szene?

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«Unser ganzes Leben ist also gewissermaßen eine Poetik: wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder» (Herder, FHA 4, 635).

Eine erkenntniskritische Epistemologie kann nicht davon ausgehen, dass es Bilder gibt. Sie wird mit der Frage beginnen müssen, wie Bilder gegeben sein können. In der Tat ist zum Beispiel ein Gemälde kein Bild, sondern ein Gegenstand, der die Eigenschaft hat, dem Sehen ein Bild geben zu können. Das Bild ist die Gabe des Gemäldes. Dies gilt nur unter Bedingungen, unter denen Bilder überhaupt gesehen werden können. Die Tauben in der Mythe des Zeuxis haben anhand einer ikonischen Darstellung die Gabe des Bildes nicht realisieren können. Sie sind von einer anderen Gabe ausgegangen und haben anstelle von süssen Trauben die Enttäuschung der unfruchtbaren Materialität eines Bildträgers hinnehmen müssen. Sie waren nicht in der Lage, trotz des Daseins von etwas dessen eigentümliches Nichtvorhandensein zu verstehen und dieses Zugleich von Da und Nicht-Da [6] als Bild zu wissen. Wir können aber unterstellen, dass die Tauben jene Trauben gesehen haben und dass sie sie in ihrer Vorstellung hatten. Es entsteht also die Frage nach der Differenz von Vorstellung und Bild.

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