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Wir sagen landläufig, dass wir ein Bild gesehen hätten und meinen damit das Gemälde, welches als Bild vorhanden gewesen sein soll, bevor wir es gesehen haben. Aber dieser Selbstdeutung vorangehend haben wir zuerst auf der Basis einer triadischen Semiose unterscheidend gesehen oder sehend unterschieden, um dann die bildbewusstseinstheoretische Markierung-zum-Bild vorzunehmen. Die Zeige-Sprech-Szene hat die Struktur einer Priorisierung der Nachträglichkeit.

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Dass Sehen und Unterscheiden nicht zu trennen sind und dass folglich mit dem beschriebenen Ensemble von Negationsakten und den impliziten Verständigungsverfahren zu rechnen ist – dies kann man auch als den Logos des Bildes bezeichnen. Denn es ist klar, dass vom Sehen nicht in seiner abstrakten sensuellen Isolierheit die Rede ist, sondern insofern, als es vom gesamten Apparat der menschlichen Vermögen getragen ist.

Diese Bemerkung führt zu dem zunächst kontraevidenten, aber für eine kritische Bildtheorie zentralen Folgetheorem, dass zur Konstitution eines Bildes ein Sehakt im phänomenalen Sinne nicht notwendig ist. Wenn das Sehen von Beginn an logoshaften Charakters ist, wenn es unterscheidungsfähig und sprachförmig ist, dann wird man mit diesen Bestimmungen von einem Modell ausgehen, für das man im 18. Jahrhundert den Begriff des sensorium commune hatte, [13] das mit Merleau-Ponty als Verflechtung des Sinnlichen in sich und mit der Welt (Chiasmus) [14] zu denken ist und das die moderne Gehirnforschung als integrales Netzwerk aller sensorischen und intellektiven Vermögen konzipiert. In einem solchen Modell wird das Gesehene in die Interaktion der Sinne und Vermögen eingesenkt und erst in dieser grundlegendsten Form der Selbstverständigung zur Vorstellung und durch die innere Zeige-Sprech-Szene zum Bild.

Es leuchtet ein, dass diese Funktion, sich anlässlich eines Perzepts der sensuellen Verflechtung eine innere Anschaulichkeit einzuprägen, ihren Impuls nicht vom Sehsinn erlangen muss. Vielmehr kann der Sehsinn geborgt [15] werden, um einer sich markierenden Vorstellung innere Visualität zu verleihen. Das Borgen des Sehens und seiner Gesetze, das im Geflecht der Sinnlichkeit stattfindet, wenn eine nichtvisuelle Vorstellung bildhaft wird, ist das zentrale Scharnier einer kritischen Bildtheorie, die von einem ursprünglichen synästhetischen Kontinuum der Sinne ausgeht und daraus einen Bildbegriff entwickelt, der sich von einem positivistischen Begriff des Sehens löst, um das Sehen der inneren Anschauung einzuschreiben.

<<  Ausgabe 03 | Seite 188  >>